Michail Bakunin - Der Syndikalismus in der Internationale
Alle anderen Organisationen sind Berufsabteilungen, die Arbeiter finden sich dort nicht durch die Idee vereinigt, sondern durch die Tat und selbst durch die Notwendigkeiten ihrer gemeinsamen Arbeit. Diese ökonomische Tatsache, diejenige einer Spezialindustrie und die besonderen Bedingungen der Ausbeutung jener Industrie durch das Kapital, die intime und ganz einzige Solidarität durch die Interessen, die Notwendigkeiten, die Leiden, die Zustände und die Hoffnungen welche zwischen allen Arbeitern besteht, die bei der selben Berufsabteilung sind, alles dies formt die wirkliche Grundlage ihrer Vereinigung. Die Idee kommt nachher, gleich wie die Erklärung oder der entsprechende Ausdruck der Entwicklung und des allgemeinen Bewusstseins und wiedergegeben durch jene Tatsache.
Der Arbeiter braucht keine große Vorbereitung, um ein Mitglied der Berufsvereinigung zu werden, die sein Handwerk vorstellt. Er ist dort schon Mitglied, ohne dass er es weiß, aus den natürlichen Verhältnissen heraus. Das, was ihm Not tut, zu wissen, ist zuerst, dass er sich krümmt und erschöpft beim Arbeiten, und dass jene ihn tötende Arbeit, kaum genügend, um seine Familie zu nähren und seine erschöpften Kräfte zu erneuern, seinen Arbeitgeber bereichert, und dass infolge dessen dieser letztere sein erbarmungsloser Ausbeuter ist, sein unermüdlicher Unterdrücker, sein Feind, sein Herr, welchem er nichts schuldig ist, als den Hass und die Empörung des Sklaven, um ihm später einmal, wenn er ihn besiegt hat, die Gerechtigkeit und Brüderlichkeit des freien Menschen angedeihen zu lassen.
Er muss aber auch wissen, wie es leicht verständlich ist, dass allein er machtlos gegen seine Herren ist, und dass, um keineswegs sich durch ihn zermalmen zu lassen, er sich zuerst vereinigen muss mit seinen Kameraden der Werkstatt, ihnen gleicherweise treu sein muss in allen Konflikten, die sich in der Werkstatt gegen jenen Meister erheben. Er muss auch wissen, das die Vereinigung der Arbeiter einer Werkstatt nicht genügt, dass alle Arbeiter des gleichen Handwerks, arbeitend im selben Ort, sich vereinigen müssen. Wenn er das erkannt hat – und, wenigstens wenn er nicht durchaus dumm ist, die tägliche Erfahrung muss es ihm bald lehren – wird er ein ergebenes Mitglied seiner Berufsabteilung. Diese letztere ist schon als Tatsache vorhanden, aber sie hat noch nicht das internationale Bewusstsein, sie ist noch nichts weiteres als eine einfache lokale Tatsache. Dieselbe Erfahrung, dieses Mal gemein- sam, zögert nicht in den Köpfen der wenigst aufgeklärtesten Arbeiter die Engheiten jener nur lokalen Solidarität zu zerbrechen. Es kommt eine Krisis, ein Streik. Die Arbeiter desselben Berufs, in irgend einem Winkel, handeln gemeinsam, fordern von ihrem Arbeitgeber entweder eine Erhöhung der Löhne oder Erniedrigung der Arbeitszeit. Die Arbeitgeber wollen es nicht bewilligen, aber weil sie nicht ohne Arbeiter existieren können, lassen sie sich solche aus anderen Orten oder Provinzen desselben Landes, oder selbst des Auslandes kommen. Aber in jenen Ländern schaffen die Arbeiter mehr bei geringerem Lohn; die Arbeitgeber können deshalb ihre Erzeugnisse zu billigerem Preise verkaufen, und dadurch, den Produkten der Länder, wo die Arbeiter mehr erhalten für weniger Arbeit Konkurrenz machend, zwingen sie die Arbeitgeber jener Länder die Löhne zu erniedrigen und die Arbeitszeit zu verlängern, dass deshalb auf die Dauer die im Verhältnis erträgliche Lage der Arbeiter eines Landes sich nur erhalten kann, wenn sie gleicherweise erträglich ist in allen anderen Ländern. Alle diese Tatsachen wiederholen sich zu oft, als dass sie der Aufmerksamkeit der einfachsten Arbeiter entschlüpfen könnten. Daher endigen sie im Begreifen, dass für sie nicht genügt, um sich gegen die ausbeuterische und immer wachsende Unterdrückung der Arbeitgeber zu sichern, nur eine örtliche Solidarität zu organisieren, sondern dass es notwendig ist, in jener Organisation alle Arbeiter desselben Berufes, arbeitend nicht nur in selber Provinz oder im selben Lande, sondern in allen Ländern, besonders in jenen, welche vor allem unter sich verbunden sind durch die Beziehungen zwischen Handel und Industrie, zu vereinen. So bildet sich die nicht örtliche, selbst nicht mehr nationale, sondern tatsächlich internationale Organisation derselben Gruppe des Berufes.
In dem man voraussetzt, dass die internationale Solidarität in einem Handwerkszweig vollständig ist, und dass sie es nicht in den anderen ist, ist notwendigerweise das Ergebnis folgendes, dass in dieser Industrie der Lohn der Arbeiter höher ist und die Arbeitszeit kürzer als in allen anderen Industrien. Und da es erwiesen ist, dass infolge von Konkurrenz, die die Kapitalisten und Unternehmer unter sich führen, der wirkliche Nutzen der einen wie der anderen keine andere Quelle hat als die relative Bescheidenheit der Löhne und die so groß wie mögliche Anzahl der Arbeitsstunden, ist es klar, dass in jener Industrie, wo die Arbeiter international vereinigt sind, die Kapitalisten und Unternehmer weniger verdienen als in allen anderen; daher bringen die Kapitalisten nach und nach ihre Kapitalien und die Arbeitgeber ihre Kredite und ihre ausbeuterische Tätigkeit in den weniger oder gar nicht organisierten Berufen unter.
Aber dies hätte zur notwendigen Folge, dass 8in der international organisierten Industrie die Nachfrage nach Arbeitskräften verringert wird, dies verschlechtert natürlicherweise die Lage dieser Arbeiter, die sich gezwungen sehen, um nicht zu verhungern, länger zu arbeiten und sich mit einem geringeren Lohn zu begnügen. Aus diesem geht hervor, dass die Arbeitsbedingungen sich weder verbessern noch verschlechtern können in irgend einer Industrie, ohne dass es die Arbeiter in allen anderen Industrien bald verspüren, und dass alle Berufszweige in allen Ländern der Welt in Wirklichkeit und unlöslich von einander abhängig sind.
Die Solidarität zeigt sich in der Wissenschaft eben so wohl wie durch die Erfahrung, ist doch die Wissenschaft nichts anderes als die allgemeine Erfahrung, in ein Relief zusammengefasst, verglichen, systematisiert und pflichtgemäß erklärt. Aber sie zeigt sich in der Arbeiterwelt durch die gegenseitige, tiefe und leidenschaftliche Sympathie, die, im gleichen Maße wie die ökonomischen Tatsachen sich entwickeln und ihre politischen und sozialen Konsequenzen mehr und mehr bitter für die Arbeiter aller Berufe, sich stärker fühlbar machen, wächst, und mehr und mehr sich verstärkt in den Herzen des gesamten Proletariats.
Die Arbeiter aller Berufszweige, gewarnt einerseits durch die materielle und moralische Unterstützung, die sie in den Zeiten der Kämpfe bei den Arbeitern aller anderen Berufe und aller anderen Länder finden, andererseits durch die Zurückweisung und den systematischen und gehässigen Widerstand, den sie nicht nur seitens ihrer eigenen Arbeitgeber finden, sondern auch bei den Arbeitgebern in den Industrien, die mit der ihrigen die wenigste Verbindung haben, seitens der Bourgeoisie insgesamt, kommen zur vollständigen Erkenntnis ihrer Lage und der ersten Bedingungen ihrer Befreiung.
Sie sehen, dass die Gesellschaft in drei Hauptkategorien getrennt ist: 1. die unzähligen Millionen ausgebeuteter Proletarier, 2. einige Hunderttausende von Ausbeutern zweiter oder selbst dritter Sorte, und 3. einige Tausende oder höchstens Zehntausende Menschen des Raubes oder gutgemästeter Kapitalisten, welche, indem sie in direkter Weise die zweite Kategorie und indirekt vermittels dieser die erste ausbeuten, zumindest die größte Hälfte des Ertrages der gesamten Arbeit der ganzen Menschheit in ihre riesigen Taschen einstecken.
In dem Augenblick, wo der Arbeiter dazu gekommen ist, sich diese spezielle und immer währende Tatsache vorzustellen, wie wenig seine Intelligenz auch entwickelt sei, kann es ihm nicht fehlen, bald zu verstehen, dass, wenn für ihn ein Mittel nichts anderes sein kann, als die Einrichtung und die Organisation der geradesten praktischen Solidarität zwischen den Arbeitern der ganzen Welt, ohne Unterschied der Beschäftigung und des Landes, zum Kampf gegen die ausbeuterischen Bourgeoisie.
Hierin liegt also die Grundlage der großen „Internationalen Arbeiter Assoziation“ vollständig dargelegt. Sie wurde uns nicht durch eine Theorie, die dem Kopfe eines oder mehrerer tiefer Denker entsprang, gegeben, sondern durch die reale Entwicklung der wirtschaftlichen Tatsachen, durch die so trockenen Proben, die diese Tatsachen den Arbeitermassen zu spüren geben, und durch die Reflexionen und Gedanken, die sie in ihrem Innern erwecken.
Damit die Vereinigung geschaffen werden konnte, war es nötig, dass alle notwendigen Bedingungen, die sie formen, als da sind: ökonomische Verhältnisse, Versuche, Hoffnungen und Gedanken des Proletariats sich schon zu einem genügend starken Grad entwickelt hatten, um ihr eine sichere Grundlage zu bereiten.
Es war nötig, dass im Schoß des Proletariats selbst sich schon Gruppen oder Organisationen von genügend vorgeschrittenen Arbeitern, zerstreut durch alle Lande sich befanden, um die Initiative zu jener großen Bewegung, der Befreiung des Proletariats, zu ergreifen.
Aus: „Oeuvres de Bakounine“ Tome 6, par James Guillaume. Dieser Artikel erschien in der Maiausgabe von 1913 der anarchistischen und syndikalistischen Zeitung „KAMPF“. Diese wurde vom Archiv Karl Roche gescannt. >>> http://archivkarlroche.wordpress.com http://archivkarlroche.files.wordpress.com/2009/12/kampf-11-mai-1913.pdf --- Artikel auf S. 5 – 6. Erschienen als Heft 216 der anarchosyndikalistischen Flugschriftenreihe. Abgetippt und mit neuer Rechtschreibung von ASF.