Max Nettlau und die Geschichte der Anarchie (Biographie)
Allzu lange war das herrschende Geschichtsverständnis gleichbedeutend mit Herrschaftsgeschichte. Im Mittelpunkt des Forschungsinteresses zahlloser Generationen von HistorikerInnen stand die Frage, welche Partei dank welcher Mittel im ewigen Ringen um die wirtschaftliche und politische Macht zu triumphieren vermochte. Über die oftmals brutal im Keim erstickten Versuche emanzipatorischen Aufbegehrens hingegen wurde gewöhnlich der Mantel des Schweigens gebreitet. Erst während des ausgehenden 20. Jahrhunderts begann auf internationaler Ebene ein Umdenken einzusetzen, als etwa britische History Workshops und Geschichtswerkstätten in der BRD so genannte einfache Leute und gesellschaftliche Randgruppen als historische Subjekte entdeckten. So positiv diese Entwicklung zu bewerten ist, für weite Teile der anarchistischen Geschichte wäre sie zu spät gekommen, hätte nicht ein libertärer Einzelkämpfer bereits Jahrzehnte zuvor fast sein gesamtes Leben lang gegen das Verdrängen und Vergessen angeforscht und -geschrieben: Max Nettlau.
Carl Hermann Max Nettlau wurde am 30. April 1865 als Sohn eines von Ostpreußen nach Österreich eingewanderten Ehepaares in der Nähe Wiens geboren. Aufgrund der Anstellung des Vaters als fürstlicher Hofgärtner wuchs er in relativ wohlhabenden Verhältnissen auf. In der liberalen Atmosphäre seines Elternhauses durfte Nettlau ungestört einen starken Freiheitsdrang und ein ausgeprägtes Gerechtigkeitsempfinden entwickeln. Als er 1881 libertäre Zeitungen zu lesen bekam, wurde ihm bewusst, dass seine Überzeugungen in hohem Maße mit den Ideen des kommunistischen Anarchismus übereinstimmten. Nettlau war für die Sache des freiheitlichen Sozialismus gewonnen und sollte ihr bald sein gesamtes Leben widmen.
Nachdem Max Nettlau 1882 auf einer Wiener Privatschule das Abitur abgelegt hatte, studierte er in Berlin und Leipzig die cymrische Sprache, den walisischen Zweig des Keltischen. 1887 erwarb Nettlau auf diesem Fachgebiet den Titel eines Doktors der Philologie.
Im Zuge sprachwissenschaftlicher Recherchen stieß er in den Archiven des Londoner British Museums auf unerschlossene freiheitlich-sozialistische Literatur. Dies war für ihn der letzte Anstoß, sich als Chronist der anarchistischen Geschichte zu betätigen. Nettlau erwies sich hierfür aufgrund seiner umfassenden Sprachkenntnisse als besonders geeignet, war er doch in der Lage, die Ideen und Kämpfe sozialrevolutionärer Bewegungen in verschiedensten Regionen der Erde auf Grundlage von Originalquellen für die Nachwelt festzuhalten.
Da der Großteil anarchistischer Schriften gar nicht erst den Weg in Bibliotheken fand, begann Nettlau entsprechende Veröffentlichungen zusammenzutragen, wobei allmählich eine einzigartige Sammlung libertärer Druckerzeugnisse entstand.
Mit ungeheurer Sorgfalt begab er sich zunächst daran, das Leben und Wirken des legendären Revolutionärs Michail Bakunin (1812-1876), der Leitfigur des antiautoritären Flügels der 1872 in eine anarchistische sowie eine marxistische Richtung gespaltenen Ersten Internationalen, nachzuzeichnen. Weitere Persönlichkeiten des freiheitlichen Sozialismus, denen Nettlau in Form biographischer Arbeiten seine Reverenz erwies, waren die kommunistischen Anarchisten Errico Malatesta (1853-1932) sowie Elisée Reclus (1830-1905).
Zu Nettlaus Hauptwerk entwickelte sich seine auf sieben Bände und tausende Seiten anwachsende Geschichte der Anarchie, die leider bis heute nicht vollständig erschienen ist.
Im Rahmen etlicher Zeitschriftenartikel bereicherte Nettlau die libertäre Bewegung auch um eigene Ideen und Anregungen. Hierbei sprach er sich beispielsweise entschieden dagegen aus, die angestrebte herrschaftsfreie Ordnung auf ein bestimmtes Lebens- und Wirtschaftsmodell festzulegen. Für ihn besaß jeder antistaatliche Sozialismus seine Daseinsberechtigung. So plädierte er für ein Neben- und Miteinander freiheitlich-sozialistischer Gesellschaftsentwürfe in der praktischen Erprobung.
Seine ausgedehnten Studien im Dienste der Anarchie finanzierte Max Nettlau durch ein kleines Vermögen, das ihm sein 1892 verstorbener Vater hinterlassen hatte. Die nach dem Ersten Weltkrieg grassierende Inflation beraubte ihn jedoch seiner materiellen Rücklagen, so dass er sich trotz seines bescheidenen Lebensstandards fortan nur noch mühsam über Wasser halten konnte. Mehr Sorgen als um den eigenen Unterhalt machte Nettlau sich aber um seine riesige, in mehreren Ländern verstreut gelagerte Sammlung sozialrevolutionären Schriftgutes. Die Lösung beider Probleme bestand schließlich in einem Verkauf des über Jahrzehnte angehäuften Textmaterials an das Amsterdamer Internationale Institut für Sozialgeschichte, wo Nettlaus Sammlung noch immer aufbewahrt wird.
Die Machtübernahmen faschistischer Regime in Italien und Deutschland erschütterten ihn zutiefst. Als letztes Bollwerk gegen den Faschismus begriff Nettlau Spaniens starke anarchosyndikalistische Bewegung, der er sich von regelmäßigen Besuchen in ihrer Hochburg Barcelona auch persönlich eng verbunden fühlte. Unermüdlich warb Nettlau um internationale Unterstützung für den antifaschistischen Widerstand der spanischen GenossInnen. Ihre militärische Niederlage gegen die im Gegensatz zu ihnen bestens ausgerüsteten Truppen des reaktionären Putschistengenerals Franco war die wohl bitterste Erfahrung seines Lebens.
Seine letzten Jahre verbrachte Max Nettlau in Amsterdam. Von den Vertretern der Nazi-Besatzungsmacht unbehelligt, arbeitete er an seinen Memoiren. Nettlau starb am 23. Juli 1944. Durch seine Geschichte der Anarchie ist es ihm gelungen, die Ideale, Utopien und emanzipatorischen Kämpfe antiautoritärer SozialistInnen unterschiedlichster Herkunft vor dem Vergessen zu bewahren.
Literatur:
- Nettlau, Max, Geschichte der Anarchie,
- Band 1: Der Vorfrühling der Anarchie (1925 bzw. 1993)
- Band 2: Der Anarchismus von Proudhon zu Kropotkin (1927 bzw. 1993)
- Band 3: Anarchisten und Sozialrevolutionäre (1931 bzw. 1996)
- Band 4: Die erste Blütezeit der Anarchie 1886–1894 (1981)
- Band 5: Anarchisten und Syndikalisten, Teil 1 (1984)
- Band 6: Anarchisten und Syndikalisten, Teil 2 (noch unveröffentlicht)
- Band 7: Anarchisten und Syndikalisten, Teil 3 (noch unveröffentlicht)
- Rocker, Rudolf, Max Nettlau. Leben und Werk des Historikers vergessener sozialer Bewegungen, Berlin 1978.
- Burazerovic, Manfred, Max Nettlau. Der lange Weg zur Freiheit, Berlin 1996.
Originaltext: http://ann.blogsport.de/texte/max-nettlau-und-die-geschichte-der-anarchie/