Leo Tolstoi - Aufruf an die Menschheit

(Auszüge)

Überall leben zwei oder drei von tausend Menschen so, daß sie, ohne etwas für sich zu tun, an einem Tage das aufessen und austrinken, mit dessen Werte Hunderte von Menschen ein Jahr lang ernährt werden könnten; sie tragen Kleider, die Tausende kosten, wohnen in Palästen, in denen Tausende von Arbeitern Platz finden könnten, geben für ihre Launen Tausende, Millionen von Arbeitstagen aus. Die anderen dagegen schlafen und essen nicht genug, arbeiten über ihre Kräfte, untergraben ihre körperliche und seelische Gesundheit zum Nutzen jener Auserwählten.

Für die einen Menschen werden, noch ehe sie geboren sind, Hebammen und Aerzte bestellt, wird eine ganze Aussteuer bereit gehalten, Jäckchen, Windeln mit Seidenbändern, auf Federn schaukelnde Wiegen; die anderen dagegen, die überwältigende Mehrzahl, gebären ihre Kinder wie und wo es kommt, ohne jede Hilfe, wickeln sie in Lumpen ein, legen sie auf Stroh in Bastwiegen und freuen sich, wenn die Kinder sterben. Die Kinder der einen pflegen, während die Mutter neun Tage zu Bette liegt, Hebammen, Wärterinnen, Ammen, — die Kinder der anderen pflegt niemand, weil niemand da ist, und die Mutter selbst steht gleich nach der Entbindung auf, heizt den Ofen an, melkt die Kuh und wäscht zuweilen sogar Wäsche für sich, für den Mann, für die Kinder.

Die einen Kinder wachsen unter Spielzeug, Vergnügungen und Belehrung auf, die anderen klettern mit nackten Bäuchen über Türschwellen, werden von Schweinen aufgefressen oder beginnen mit fünf Jahren ihre Zwangsarbeit zu arbeiten.

Den einen wird die ganze wissenschaftliche Weisheit, dem Kindesalter angepaßt, gelehrt; die anderen werden in den gröbsten Schimpfreden und im niedersten Aberglauben unterrichtet.

Die einen verlieben sich, durchleben Romane und heiraten dann, wenn sie schon alle Freuden der Liebe durchkostet haben; die anderen werden mit sechzehn bis zwanzig Jahren verheiratet, jenachdem ihre Eltern gerade jemand gefunden haben, der ihnen in der Arbeit helfen kann.

Die einen essen und trinken das beste und teuerste, was es nur gibt und füttern ihre Hunde mit Weißbrot und Fleisch; die anderen essen nur Brot mit Kwaß und auch das nicht soviel sie wollen, und auch kein weiches Brot, um nicht zu viel davon zu essen.

Die einen wechseln jeden Tag, ohne sich zu beschmutzen, ihre feine Wäsche; die anderen, die ständig fremde Arbeit verrichten, wechseln ihre grobe, zerrissene, lausige Wäsche einmal in zwei Wochen, oder wechseln sie auch garnicht und tragen die Wäsche, bis sie ihnen vom Leibe fällt.

Die einen schlafen auf Pfühlen und sauberen Betttüchern; die anderen schlafen auf der Erde und decken sich mit ihren zerlumpten Röcken zu.

Die einen fahren mit satten wohlgenährten Pferden spazieren; die anderen arbeiten qualvoll mit ungefütterten Pferden und gehen in Geschäften zu Fuß.

Die einen können sich nicht ausdenken, womit sie ihre müßige Zeit füllen könnten; die anderen finden keine Zeit sich zu säubern, zu waschen, sich auszuruhen, ein Wort zu reden, ihre Verwandten zu besuchen.

Die einen wissen alles und glauben an nichts; die anderen wissen nichts und glauben an allen möglichen Blödsinn, der ihnen erzählt wird.

Die einen, wenn sie krank sind, trinken alle möglichen Heilquellen, werden gepflegt und in der peinlichsten Sauberkeit gehalten, bekommen Medikamente und reisen von Ort zu Ort, um das allerbeste heilbringende Klima zu finden; die anderen legen sich in der rauchigen Hütte auf den Ofen, niemand wäscht ihnen ihre Wunden aus, sie haben keine Nahrung außer trockenem Brot, keine Luft außer derjenigen, die durch zehn Familienangehörige, durch Kälber und Schafe verdorben wird, sie verfaulen lebendig und sterben vor der Zeit.

Muß denn das wirklich so sein?

Wenn es eine höhere Vernunft und eine Liebe gibt, die die Welt regieren, wenn es einen Gott gibt, so kann er nicht gewollt haben, daß eine solche Teilung unter den Menschen existiere, bei der die einen nicht wissen, was sie mit dem Ueberfluß ihrer Reichtümer machen sollen und mit den Früchten der Arbeit anderer ohne Sinn und Verstand um sich werfen, während die anderen hinsiechen und vor der Zeit sterben oder ein Leben voll über ihre Kräfte gehender Arbeit führen. Wenn es einen Gott gibt, so kann und darf das nicht sein.

Wenn es aber keinen Gott gibt, so ist auch vom allereinfachsten menschlichen Standpunkt aus eine derartige Einrichtung des Lebens, bei der die Mehrzahl der Menschen ihr Leben hingeben muß, damit ein kleiner Teil von Menschen einen Überfluß genießt, der diese Minderheit nur belastet und entsittlicht, — so ist auch von dem primitivsten menschlichen Standpunkt aus eine solche Lebensordnung unsinnig, da sie für alle unvorteilhaft ist.

***

Der Besitz des Landes durch diejenigen, die es nicht bearbeiten, ist darum ungerechtfertigt, weil der Boden, wie das Wasser, die Luft und die Sonnenstrahlen, eine notwendige Lebensbedingung für jeden Menschen bildet, und daher nicht das Eigentum eines einzelnen Menschen sein kann.

Wie der Grundbesitz durch Vergewaltigung entstanden ist (der Boden durch Eroberungen annektiert und dann vergeben oder verkauft), so ist er auch, trotz aller Versuche, ihn zu einem Rechte zu machen, eine Brutalisierung des Schwachen und Unbewaffneten durch den Starken und Bewaffneten geblieben.

Versuche nur der Arbeiter das Land zu pflügen, das er zu seiner Ernährung braucht, oder sich der Zahlung der direkten oder indirekten Steuern zu entziehen, oder versuche er, sich die von ihm selbst erzeugten Getreidevorräte anzueignen oder die Produktionswerkzeuge, ohne die er nicht arbeiten kann, — es wird Militär erscheinen und ihn mit Gewalt daran hindern.

So daß die Annektierung des Bodens, die Erhebung der Steuern, die Macht der Kapitalisten nicht die Grundursache der elenden Lage der Arbeiter bilden, sondern nur eine Folge. Die Grundursache dessen, daß Millionen von Arbeitern nach dem Willen der Minderheit leben und arbeiten, besteht nicht darin, daß diese Minderheit den Boden und die Produktionswerkzeuge annektiert hat und Steuern erhebt, sondern darin, daß sie das tun kann, daß es eine Gewalt gibt, daß ein Heer existiert, welches sich in den Händen der Minderheit befindet und bereit ist, diejenigen zu töten, die sich weigern, den Willen dieser Minderheit zu erfüllen.

Wenn die Bauern sich des Bodens bemächtigen wollen, der für das Eigentum eines nicht arbeitenden Menschen gilt, oder wenn ein Mensch seine Steuern nicht zahlt, oder wenn die streikenden Arbeiter die Streikbrecher daran hindern wollen, ihre Plätze einzunehmen, so erscheinen jene nämlichen Bauern, denen das Land abgenommen worden war, jene nämlichen Steuerzahler und Arbeiter, nur in Uniform und mit Flinten bewaffnet, und zwingen ihre nicht uniformierten Brüder, das Land herauszugeben, die Steuern zu zahlen, den Streik aufzugeben.

Wenn man sich dessen zum erstenmal bewußt wird, so glaubt man sich selbst nicht, so seltsam ist diese Erscheinung.

Die Arbeiter wollen sich befreien und dieselben Arbeiter zwingen sich selbst, sich zu unterwerfen und in der Sklaverei zu verbleiben. Warum tun sie denn das? Sie tun es darum, weil die zu Soldaten gemachten oder geworbenen Arbeiter einer so geschickten Prozedur der Verdummung unterworfen werden, daß sie nach derselben nicht anders können, als blind ihren Vorgesetzten zu gehorchen, was auch von ihnen verlangt würde. Es geschieht auf folgende Weise: Es wird ein Knabe auf dem Lande oder in der Stadt geboren. Sobald dieser Knabe jenes Alter erreicht, wo die Kraft, Geschicklichkeit und Biegsamkeit ihre höchste Stufe erlangen, während die seelischen Kräfte sich noch in dem verworrensten, unbestimmtesten Zustande befinden, also etwa im Alter von zwanzig Jahren, wird er (in allen kontinentalen Staaten) zum Militärdienst herangezogen, wie ein Arbeitsvieh besichtigt, und wenn er physisch gesund und stark ist, je nach der Brauchbarkeit, irgend einer Heeresabteilung zugewiesen. Man zwingt ihn, feierlich zu beschwören, daß er sklavisch seinen Vorgesetzten gehorchen wird, entfernt ihn dann von seinen früheren Lebensbedingungen, gibt ihm Schnaps oder Bier zu trinken, kleidet ihn in eine bunte Tracht und sperrt ihn zusammen mit ebensolchen Burschen in eine Kaserne, wo ihm unter völligem Müßiggang (d. h. ohne daß er irgend eine nützliche, vernünftige Arbeit tut) die unsinnigsten militärischen Regeln und Namen von Dingen und die Handhabung von Mordwaffen: Säbeln, Bajonetten, Flinten, Kanonen gelehrt werden. Vor allem aber wird ihm ein nicht nur widerspruchsloser, sondern auch einfach mechanisch-reflektorischer Gehorsam den Vorgesetzten gegenüber gelehrt.

Jedesmal wenn ich im Winter an dem kaiserlichen Palais in Moskau vorübergehe und dort bei dem Schildhäuschen einen jungen Burschen Posten stehen sehe im schweren Pelz und in großen Galoschen, auf der Schulter das neueste Gewehrmodell mit geschliffenem Bajonett, stillstehend oder auf- und abgehend, — blicke ich ihm in die Augen. Und jedesmal kehrt er sich ab von meinem Blicke und jedesmal denke ich: vor ein oder zwei Jahren noch war er ein lustiger Bauernbursche, harmlos und gutmütig, der heiter mit mir in guter russischer Sprache zu sprechen begonnen hatte, mir in dem Bewußtsein seiner Bauernwürde seine ganze Geschichte erzählt hätte, — jetzt aber sieht er mich böse und finster an und versteht nur auf alle Fragen sein »zu Befehl« zu antworten. Wenn ich wozu ich immer versucht bin — mich jener Tür, an der er steht, nähern, oder nach seiner Flinte fassen würde, so würde er mir, ohne sich auch nur einen Augenblick zu bedenken, sein Bajonett in den Magen treiben, wurde es darauf aus der Wunde ziehen, es abwischen und dann fortfahren, mit den Galoschen schlürfend auf dem Asphalt auf- und abzugehen, bis die Ablösung käme und ihm die Parole und Losung ins Ohr flüsterte. Und solcher gibt es nicht nur einen, denke ich Solcher, zu Maschinen gemachter, mit Flinten bewaffneter Burschen — fast noch Kinder — gibt es in Moskau allein Tausende, Millionen in ganz Rußland und in der ganzen Welt.

Man hat diese, nicht gescheiten aber starken und gewandten Burschen genommen, sie demoralisiert und bestochen, und herrscht nun, dank ihnen, über die ganze Welt.

***

Wenn man sich aber endlich fragt, warum denn die Menschen, die diesen Betrug sehen, fortfahren, Militärdienste zu leisten oder Steuern zum Unterhalte des Heeres zu zahlen, so sieht man, daß die Ursache dieser Erscheinung in jener Lehre liegt, die nicht nur den Soldaten, sondern auch überhaupt allen Menschen eingeflößt wird, — jener Lehre, der zufolge der Militärdienst etwas Gutes und Löbliches und der Mord im Kriege keine Sünde ist. So ist denn die Hauptursache von allem jene Lehre, die den Menschen eingeflößt wird. Daher das Elend, daher die Unsittlichkeit, daher der Haß, daher die Hinrichtungen, daher die Mordtaten.

Was ist denn das für eine Lehre? Diese Lehre wird die christliche genannt und besteht in folgendem: Es gibt einen Gott, der vor sechstausend Jahren die Welt und einen Menschen Adam erschaffen hat. Adam hat gesündigt, und Gott hat dafür alle Menschen bestraft, dann aber seinen Sohn, einen ebensolchen Gott, wie der Vater, auf die Erde gesandt, damit er dort gekreuzigt würde. Diese Kreuzigung nun ist es, die den Menschen als Mittel zur Befreiung von der Strafe für die Sünde Adams dient. Wenn die Menschen daran glauben, so wird ihnen die Sünde Adams verziehen, glauben sie aber nicht, so werden sie grausam bestraft werden.

Als Beweis aber dessen, daß alles wahr sei, dient die Tatsache, daß das alles den Menschen von jenem Gott offenbart sei, von dessen Existenz wir durch jene nämlichen Menschen wissen, die das alles predigen. Abgesehen von den verschiedenen Variationen — je nach den verschiedenen Konfessionen — zu dieser Grundlehre, ist die allgemeine praktische Folgerung aus derselben die nämliche: die Menschen müssen an diese ihnen gepredigte Lehre glauben und den bestehenden Regierungen Untertan sein.

Diese Lehre ist es, die die Hauptursache jenes Betruges bildet, demzufolge die Menschen den Militärdienst für eine gute und nützliche Sache halten, Soldaten und willenlose Werkzeuge weiden und so sich selbst knechten. Wenn es unter den betrogenen Menschen auch Ungläubige gibt, so glauben diese Ungläubigen auch an nichts anderes, fügen sich so (da sie keinen Stützpunkt haben) der allgemeinen Strömung und unterwerfen sich dem Betrüge wie die Gläubigen, obgleich sie ihn sehr wohl sehen.

Und daher ist zu der Befreiung von dem Übel, unter dem die Menschen leiden, nicht die Freigebung des Bodens, nicht die Vernichtung der Steuern, nicht die Kommunalisierung der Produktionswerkzeuge und nicht einmal die Stürzung der bestehenden Regierungen nötig, sondern es ist nur die Vernichtung jener Lehre nötig, die die christliche genannt wird und in der die Menschen unserer Zeit erzogen werden.

Daher, weil die wahre, den Anforderungen unserer Zeit entsprechende christliche Lehre vor den Menschen verborgen wird und an ihrer Stelle ein falsches Christentum gepredigt wird, daher kommt alles Elend unserer Welt.

Wenn nur die Menschen, die Gott und ihren Nächsten dienen möchten, begreifen wollten, daß die Menschheit nicht durch tierische Erfordernisse fortbewegt wird, sondern durch geistige Kräfte und daß die wichtigste, die Menschheit fortbewegende Kraft die Religion ist, d. h. die Bestimmung des Sinnes des Lebens und als deren Folge die Unterscheidung des Guten vom Schlechten, des Möglichen vom Unmöglichen. Wenn die Menschen das nur begreifen wollten, so würden sie sofort sehen, daß die Grundursache der Leiden der heutigen Menschheit nicht in den äußeren materiellen, nicht in den politischen und wirtschaftlichen Verhältnissen liegt, sondern in der Entstellung der christlichen Lehre, in der Auswechselung der für die Menschheit erforderlichen und ihrem jetzigen Alter entsprechenden Wahrheiten durch ein Konglomerat von unmoralischen Sinnlosigkeiten und Gotteslästerungen, die die kirchliche Lehre genannt werden und zufolge denen das Schlechte für gut, das Richtige für unrichtig, und umgekehrt — das Gute für schlecht, das Unrichtige für richtig gilt.

Aber die Enthüllung der falschen und die Einführung der wahren Religion ist ein sehr entferntes und langsames Mittel, wird darauf geantwortet. Ob es entfernt oder langsam ist, — es ist das einzige Mittel, oder wenigstens ein solches, ohne welches keine anderen Mittel wirksam sein können. Indem ich die schreckliche, dem Verstand und Gefühl zuwiderlaufende Eirichtung des menschlichen Lebens betrachtete, fragte ich mich: muß es denn wirklich so sein? Es muß nicht so sein. Es muß und es darf und es wird nicht so sein!

Aber nicht dann wird es anders werden, wenn die Menschen auf diese oder jene Weise ihre gegenseitigen Beziehungen ändern, sondern nur dann, wenn die Menschen aufhören, an jene Lüge zu glauben, in der sie erzogen werden, und den Glauben an jene höchste Wahrheit gewinnen, die ihnen schon vor 1900 Jahren offenbart wurde und die klar, einfach und ihrem Verstände zugänglich ist.

Aus: "Der Sozialist. Organ des Sozialistischen Bundes", 2. Jahrgang, Nr. 23-24, 15.12.1910. Digitalisiert von der Anarchistischen Bibliothek und Archiv Wien. Nachbearbeitet (Scanungenauigkeiten entfernt, ae zu ä, That zu Tat usw.) von www.anarchismus.at.


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