Gustav Landauer - Rede über die Sicherung der Revolution

Nach der Ermordung Kurt Eisners am 21. Februar war in München eine Reihe von Geiseln aus den Kreisen festgesetzt worden, die wir mit Grund glaubten der gegenrevolutionären Bewegung zurechnen zu können. Die Leute wurden in einem der ersten Münchener Hotels untergebracht, genossen großes Entgegenkommen und wurden mit äußerster Rücksicht behandelt.

Trotzdem stellten die Sozialdemokraten im Rätekongreß schon am 6. März den Antrag, die verhafteten Geiseln bedingungslos freizulassen. Dieser Dringlichkeitsantrag Dr. Süßheim wurde auch gegen unseren heftigen Widerspruch angenommen. Hier folgt, unter Auslassung völlig bedeutungsloser Zwischenbemerkungen, Landauers Rede gegen den Antrag.

[...] Erstens: Die Festnahme von Geiseln in kritischen Lagen der Gesellschaft ist schon immer vorgekommen. Zweitens wäre es doch lächerlich zu sagen, daß wir in einer geordneten Gesellschaft leben. Wer hindert uns daran? Wir sind noch sehr unter der Gefahr der Gegenrevolution. Ich wehre mich dagegen. Ich bin dafür, daß man sich dagegen wehrt, solange die Gefahr besteht, solange es nötig ist. [...] Man könnte vorschlagen, der Zentralrat solle über die Festnahme der Geiseln, über die Personen, die in Betracht kommen, und über den ganzen Stand der Sache Bericht erstatten. [...]  Uns muß der Zentralrat zunächst einmal sagen, ob nicht Gefahr in Verzug ist, wenn wir die Geiseln jetzt entlassen. (Sehr richtig) Ich weiß davon nichts, ich will darüber Bericht erstattet haben. So viel weiß ich aber, daß das Wort, das der frühere Kriegsminister Hellingrath zu einem gesagt hat, der in Schutzhaft genommen wurde: »Jetzt geht es hart gegen hart«, höchstwahrscheinlich in dem Kampfe gegen die Gegenrevolution auch für uns noch gelten muß. Eisners Ermordung ist nicht gesühnt. Wir wissen aber, daß Herr Graf Arco aller Wahrscheinlichkeit nach Bundesgenossen in den Kreisen der Aristokratie, des Studententums und Offiziertums gehabt hat, daß es sich um ein Komplott, eine Verschwörung handelte. Wir wissen noch nicht einmal, ob es zu einer richtigen Vernehmung dieses jungen Mannes gekommen ist, wir wissen über seine Aussagen gar nichts in diesem Moment.

Ohne etwas zu wissen, an unser Mitleid zu appellieren: »Laßt die Geiseln frei«, halte ich nicht für richtig. Wir müssen erst wissen, wie wir dran sind, und dann können wir es uns reiflich überlegen. Soviel muß man mit dem proletarischen Empfinden mitzuempfinden vermögen, um sein Mitleid nicht an diese Kreise Kreß von Kressenstein usw. zu verschwenden. Wenn irgend einmal der Zeitpunkt käme, der kann wohl kommen, daß durch die Verhältnisse arme Bourgeois, die bisher reiche Bürger waren, genötigt wären, die Straße zu kehren, Kanäle zu räumen, ich sage: durch die Verhältnisse genötigt, dann wäre es wohl möglich, daß jemand, der gar nicht mehr imstande ist, mit Proletariern mitzuempfinden, zunächst sein Mitleid dahin ergießt. Ich würde sagen, ich habe schon immer Mitleid gehabt mit den Proletariern, die dazu genötigt waren, Jahre und Jahrzehnte hindurch, und ich habe Mitleid mit den Opfern der Gesellschaft, seien sie Diebe, Betrüger, Gauner irgendwelcher Art, mit den Opfern unserer sozialen Zustände, die in Gefängnissen schmachten, die Gewohnheitsverbrecher wurden, und wenn ich dann noch ein Tröpfchen Mitleid übrig behalte, was ich jetzt noch nicht weiß, kann ich auch Mitleid haben mit Kreß von Kressenstein, Buttmann und dem Verlagsbuchhändler Lehmann, die jetzt als Geiseln genommen wurden. Vorläufig habe ich zu diesem Mitleid noch nicht Platz in meinem sonst ziemlich geräumigen Herzen, weil mir das Herz bricht vor Mitleid übder das elend der Proletarier, über das Elend der Erwerbslosen. (Stürmischer Beifall und Händeklatschen)

Solange wir nicht wissen, daß wir nicht mehr bedroht sind, solange wir noch immer Kampf zu führen haben gegen eine unbekannte und unbenannte Sippe von Aristokraten, Bourgeois und Verschwörern, können wir dem Zentralrat nicht in den Arm fallen, sondern müssen ihm sagen: Wenn du etwas zu sagen hast über den Stand der Untersuchung, so sage es uns! Aber wir dürfen nicht einfach aus Entrüstung, weil es nicht bourgeoismäßig  zugeht, weil es nicht üblich ist, sagen, das wird nicht mehr geduldet, jetzt kommt der Landtag, der geordnete  Zustand.

Wir können jetzt in keinem geordneten Zustande sein, wir sind von Mord, Totschlag, Heimtücke durchaus bedroht. Solange die Leute im Bayerischen Hof waren — jetzt sollen sie nach Stadelheim gekommen sein, ich weiß es nicht sicher —, haben sie es wahrhaftig nicht schlecht gehabt. Man hat sogar behauptet, der Hotelier,  der Besitzer des Bayerischen Hofs, hätte den Soldaten, die  ihm diese Gäste ins Haus brachten, Provision versprochen, wenn sie nur recht viele bringen. (Heiterkeit.)

Dies Geschichtchen ist jedenfalls ein Beweis, daß die Leute dort ein sehr reichliches und keineswegs ärmliches Leben führten. Wenn die jetzt einmal an Stelle von soundsovielen unschuldigen Proletariern Stadelheim kennenlernen, das Eisner, Unterleitner und seine Genossen Monate und  Monate hindurch kennenlernten, auch als Unschuldige, so sage ich wahrhaftig nicht: Das ist Rache. Mir ist  Rachetrieb fern. Ich sage, es kann so sein, daß der freie Volksstaat Bayern jetzt noch in der Notlage ist, bestimmte Personen zu behalten, weil die eigentlichen Verschworenen uns noch unbekannt sind, sich im Hintergrunde halten. Soll doch einer von diesen Aristokraten kommen und sagen: Ich stelle mich als einer, der sich gegen den  Bestand des freien Volksstaates Bayern verschworen hat, gebt dafür den, der mit der Sache nichts zu tun hat, frei! (Rufe: Sehr richtig!)

Bisher ist noch keiner gekommen, bisher hat siehe noch kein einziger gemeldet von den vielen Hunderten, die in Garmisch-Partenkirchen, die allüberall an den schönsten Seen, in den schönsten Gegenden Bayerns sich verschworen, die da ihre Komplotte geschmiedet haben. Wir werden noch dahinterkommen und die Richtigen fassen; dann werden die, die unschuldig leiden, ohne Zweifel freigelassen werden. Jetzt, wo wir noch in der Krise, im Übergange sind, wo noch gar nichts entschieden ist, einfach zu sagen, ohne daß wir irgend etwas wissen: Zunächst müssen einmal die Geiseln frei werden, so wie zunächst einmal die Pressefreiheit wiederhergestellt werden muß, Pressefreiheit im alten bürgerlichen Sinne, ist unerhört. (Zurufe.) Worüber ich mich errege, ist, daß ich weiß, daß es sich bei diesem Antrage Süßheim um eine Abmachung mit dem bürgerlichen Landtage in Bamberg handelt. (Hört, hört! und Zurufe) Ich weiß, daß in Bamberg von den bürgerlichen Parteien gefordert wurde, erstens, die Geiseln müssen wieder frei werden, zweitens, das alte kapitalistische Pressemonopol — so hat man sich natürlich nicht ausgedrückt, man hat natürlich gesagt: Pressefreiheit — muß wiederhergestellt werden. (Hört, hört!)

Das ist der erste Antrag Süßheim, der hier als Vertreter des bürgerlichen Bamberger Parlamentes auftritt. (Beifall und Händeklatschen.) (Widerspruch des Dr. Süßheim.) (Zurufe.) [...] Vorhin war ich gereizt, obwohl ich persönlich nicht angegriffen war. Ich lasse mich durch die Sache reizen. Ich erkläre, mein Eindruck ist der, daß das der erste dieser Anträge ist. Hintennach kommt dann die Wiederherstellung der bürgerlichen Pressefreiheit; denn diese ist auch den bürgerlichen Parteien versprochen worden, noch ehe man die Unabhängigen zur Verhandlung gerufen hat. (Rufe: Hört, hört!)

Man hat vorher mit den Bürgerlichen verhandelt, so war die Sache, und in diesen Zusammenhang hinein gehört der Antrag, jetzt gleich vor allen Dingen wieder einmal für ein geordnetes Staatswesen zu sorgen und die Geiseln freizulassen. Für ein geordnetes Staatswesen sollen die sorgen, die uns Unordnung in unseren freien Volksstaat, in die Entwicklung unserer Republik hineintragen. (Lebhafter Beifall und Händeklatschen.)

Originaltext: Aus Fanal, 3. Jg., Nr. 8, Mai 1929. In: Ruth Link-Salinger (Hg.): Gustav Landauer - Erkenntnis und Befreiung. Suhrkampf Verlag 1976. Digitalisiert von www.anarchismus.at


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