Gustav Landauer - Deutschland und seine Revolution (1918)
Wie ist das eigentlich zu deuten? Einerseits die gutmütigste und humanste Revolution, die es jemals gegeben hat, ganz abgesehen davon, daß sie völlig ohne Blutvergießen, besonders hier in Bayern, abging, diese Duldsamkeit gegen das Reden, gegen das Schreiben, und man hat ja auch den Eindruck, daß beinahe am Tage nach vollzogener Revolution die Parteien der alten Art sich wunderbar schnell erholt, man darf sagen, vielleicht vom Schrecken, und der Überraschung erholt und in die neue Situation eingefügt haben.
Ich weiß nicht, worüber man sich mehr wundern soll, über die bürgerlichen parteien, die sich - ich meine es nicht bös, gestatten Sie schon das populäre Wort - mit einer wirklich affenartigen Geschwindigkeit umkostümiert haben, oder soll man sich mehr wundern über die Sozialdemokratie, über die Regierungssozialdemokratie früherer Regierungsart, die sich so benimmt, als ob überhaupt nichts geschehen wäre, die gar nicht das Bedürfnis fühlt, die Revolution als einen erschütternden Umschwung zu betrachten, die höchstens in manchen ihrer Glieder beinahe geärgert erscheint, daß da ein Zwischenfall gekommen ist, der im Programm und in der Taktik nicht vorgesehen war, der in die bisherigen, so sehr bewährten Parteiorganisationen und gewerkschaftlichen Organisationen, in dieses ganze Richtungsprogramm nicht hineinzupassen scheint.
Unangenehm berührt sind auch viele andere Richtungen, besonders wenn man von der Herkunft, von dem Ursprunge, von dem geistig-seelischen Ursprunge dieser Revolution, von der Bedeutung dieser Revolution spricht. Man kann nämlich von dem Ursprunge dieser Revolution nicht sprechen, ohne von diesem Krieg und Ursprunge dieses Krieges und von der Schuld an diesem Kriege zu sprechen. Vielleicht entsinnen Sie sich noch an den über die Maßen plumpen Vorstoß, den der längst verflossene Reichskanzler Herr Michaelis selig zusammen mit Herrn von Capelle gegen einige Mitglieder, eigentlich gegen die gesamte Unabhängige Sozialdemokratische Partei gemacht hat im Zusammenhange mit gewissen Aufruhrbewegungen in der Flotte. Damals wurde gesagt, die Partei der Unabhängigen sei des Landesverrats schuldig, sei dieser Umtriebe schuldig. Es lag aber noch nicht einmal ein gerichtliches Verfahren vor, es lag nicht einmal die Spur eines Beweises vor. Wenn wir aber jetzt, wo wir nicht mehr in dem alten Regime drin sind, wenn wir uns jetzt besinnen, müssen wir sagen: das waren für eine größere Öffentlichkeit die ersten Symptome, daß eine ernsthafte Aufruhrbewegung, eine ernsthaft-revolutionäre Bewegung unter den Soldaten im Gange und daß diese revolutionäre Bewegung nicht bloß von irgendwelcher Unzufriedenheit mit Vorgesetzten oder sonst mit irgendwelchen lokalen Angelegenheiten kam, diese Unzufriedenheit auch keineswegs bloß daher kam, daß unsere Matrosen und Soldaten auf der Hochseeflotte so überaus viel Zeit hatten, sich mit geistigen, geschichtlichen und sonstigen Dingen zu beschäftigen, sondern daß diese Bewegung zusammenhing mit einer kleinen Gruppe von Menschen, die über den Ursprung dieses Krieges und über die Schuld Deutschlands ihre ganz besonderen Gedanken sich machten. Das war eine Gruppe, die keineswegs bloß parteimäßig formiert war; das waren Menschen, die einen gewissen Flügel, im Neues Vaterland z.B., bildeten, das waren solche, die wußten, was andere nicht wissen wollten, wohl aber wissen konnten.
Es ist hier gestern gesagt worden, das könnte nur in Deutschland vorkommen, daß man so — das Wort ist wohl nicht gewählt worden, aber gemeint war wohl so etwas Ähnliches — sein eigenes Nest beschmutzt. Aber man muß wohl unterscheiden das deutsche Land, das deutsche Volk und eine verflossene, mit Schmach bedeckte deutsche Regierung und dieses Regierungssystem.
Der Engländer sagt nicht: »Right or wrong, my government«, er sagt nicht: »Recht oder Unrecht, meine Regierung«; der Engländer sagt: »Recht oder Unrecht, mein Land«. Wer würde nicht zu seiner Heimat, zu seinem Lande, zu seinem eigenen Volke halten, auch wenn dieses eigene Volk durch Nichtwissen, durch Ducksamkeit, durch Fügsamkeit und durch knechtische Gesinnung, die ihm auferlegt und anerzogen wurde, schwere Schuld auf sich geladen hat? Was bedeutet die passive Schuld des Duldens, des Gewährenlassens, des Nichtwissens, des Augenschließens, der Gedrücktheit auf Seiten des deutschen Volkes gegenüber der Riesenschuld derer, die sehr wissend, sehr bewußt diesen Krieg gemacht haben, gemacht haben? Man kann es nicht anders ausdrücken.
Nun sagt man wohl: Na, na! Wir werden doch wohl nicht die einzig Schuldigen sein? Es ist doch im Laufe der Jahrzehnte dieser Krieg langsam heraufgekommen, man hat beobachtet, wie die Zustände in allen Ländern immer kriegerischer wurden, man hat den Präsidenten Poincaré, man hat die Verhältnisse politischer Art in Rußland gesehen usw., man hat das gesehen, was man Einkreisung Deutschlands nennt. Darüber habe ich meine eigenen Gedanken. Die Sache ist die: Man muß unterscheiden zwischen der Möglichkeit, ja, ich gebe sogar zu, Wahrscheinlichkeit, daß früher oder später hätte ein Krieg kommen müssen, und dem Ausbruche dieses Krieges. Es ist sehr wahr, die Verhältnisse hatten sich — auch durch die Hauptschuld Deutschlands — von 70/71 an allmählich so zugespitzt, daß wieder ein Krieg kommen mußte. Als dann die Bismarcksche Ära, die eine Gewaltära war, vorbei war, als dann die Anträge auf Abrüstung, auf internationale Verständigung überall, in allen Ländern bis in die Regierungen hinein großes Verständnis fanden, als dann die Haager Konferenzen kamen, da allerdings — wer die Haager Konferenzen wirklich studiert hat, muß mir das zugeben — kam es zu dem, was die freiwillige Isolierung Deutschlands war.
Wenn ein Land sich mit kriegerischen Gesten und mit geschwungenem Schwerte freiwillig abseits stellt, während die anderen ihre Bünde zum Frieden hin, zur Verständigung hin miteinander schließen, dann sieht es freilich für den naiven Deutschen, für den in seiner kriegerischen Art bedrohten Deutschen so aus wie eine Einkreisung. Aber die andern, die nicht diese mittelalterliche, ritterlich-kriegerisch drohende Haltung haben wollten, die dadurch, daß sie die Revolution durchgemacht haben, die Deutschland gefehlt hat, schon zu einem gewissen Liberalismus vorgedrungen waren, die sich dann verbündeten, um zu sagen, wir sind zwar nicht so, aber wenn es darauf ankommt, können wir auch so, haben sich zur Verteidigung gerüstet, weil sie wußten, daß Deutschland für sich allein auf Grund seiner militärischen Organisation, seiner militärischen Art, seiner ganzen militärischen Vorbereitung nahezu so mächtig war, wie die anderen Staaten alle zusammengenommen.
II.
Das war die sogenannte Einkreisung Deutschlands, und nun gab es Männer — es waren auch ein paar Frauen dabei —, Menschen, wenige, die das anerkannt haben, was die ganze Welt außerhalb Deutschlands, Neutrale wie sogenannte Feinde, vom Juli 1914 an gewußt haben, daß dieser Krieg aufs Datum von Deutschland gemacht worden war. Ja, man kann behaupten und beweisen, daß, wenn der Erzherzog Franz Ferdinand von Este heute noch friedlich irgendwo als entthronter Thronfolger lebte, der Krieg im August 1914 trotzdem ausgebrochen wäre, daß man einen anderen Grund, einen anderen Anlaß, einen anderen Vorwand gefunden hätte. Vorwände zu diesem Kriege hat man mindestens von der Marokkokrise an hie und da von Deutschland aus gesucht. Es ist nicht immer geglückt. 1911 hätte er kommen sollen, 1913 im Frühling hätte er kommen sollen, da brach von außen her der Widerstand ein und man wartete noch ab. 1914 — wir haben dafür den Beweis, ein wichtiger wurde uns hier dankenswerterweise von der bayrischen revolutionären Regierung geliefert — 1914 schien es dem deutschen Militärregiment höchste Zeit, die Sache war reif, und der Krieg wurde gemacht.
Aber das Schauspiel, das sich nach vollzogenem ersten Akt der Revolution in Deutschland ergab, wäre meiner innersten Überzeugung nach in jedem anderen Lande unmöglich gewesen. Es kam nämlich das Schauspiel, daß die, die maßlos im großen und ganzen überrascht worden waren, die auch erschreckt waren, auf einmal sich wieder erholten und sich sagten, nicht bloß sich sagten, sondern sofort in die Welt schrieen: Es ist noch nichts geschehen, es ist gar nichts geschehen; erst müssen wir mitstimmen, erst muß die Nationalversammlung kommen, es ist noch gar nichts getan, erst muß auf Grund des Wahlrechts das Volk zusammentreten und muß beschließen; da muß natürlich die Frage vorgelegt werden: Ist die Revolution zu Recht vollzogen worden? Erkennen wir sie an? Wollen wir die Republik, wie sie sich die Revolutionäre denken, oder wollen wir sie anders? Wollen wir das Haus Wittelsbach zurückrufen usw.? Das alles soll die Nationalversammlung erst nocheinmal entscheiden.
Ich bin überzeugt, es gibt einige gutgläubige Professorren, die sich gar nichts Schlimmes dabei denken, sondern die meinen, es muß alles auf diesem Wege des Rechtes vollzogen werden. Revolution bricht Recht, Revolution schafft neues Recht, und das neue Recht ist nicht da, solange die Revolution da ist; das neue Recht wird gemacht, das neue Recht wird von schöpferischer Kraft gemacht. Da fragt kein Mensch mehr, ob es eine Mehrheit der Vergangenheit ist, die da zuständig ist, oder ob vielmehr die Gesamtheit der Zukunft es ist, die, wie sie in den vereinsamten Propheten Jahrzehnte und Jahrhunderte hindurch ganz alleiniglich gelebt hat, so jetzt vielleicht in einer kleinen Gruppe lebt. Es ist die Zukunft, es ist die Gesamtheit, die immer sich kristallisiert zeigt in der Revoution; und die, die jetzt die Mehrheit spielen wollen, das sind Vergangenheitsmächte, das sind solche, die in Wahrheit, obwohl sie sich noch lebendig stellen, genauso tot sind wie das alte System.
Die Revolution wird Parteien zeugen, das haben die bürgerlichen Parteien gemerkt und haben sich darum gleich am 9. oder 10. November umkostümiert. So geht das nicht, daß man mit neuer Tracht eine neue Partei ist. Darauf fällt ein großer Teil des politisch unerzogenen deutschen Volkes vielleicht herein, vielleicht aber auch nicht. Nun, ich möchte, daß die Revolution so gut, so friedfertig und so kurz wie nur möglich geht; sollte es aber so kommen, daß die kommende Nationalversammlung z.B. oder der Landtag in Bayern eine Mehrheit des Alten, des gar nicht mehr Seienden präsentiert, so ist das bloß ein Zeichen, daß der Weg der Revolution schwieriger und länger sein wird.
Ich sage das nicht zur Warnung, ich sage das noch weniger zur Drohung, das liegt mir durchaus fern; ich sage es, weil ich Revolutionäre und Revolution kenne, weil ich weiß, die Revolution weicht nicht, das Weichende, das Schwankende, das liegt in all denen, soweit sie ehrlich sind, die von der Revolution noch nicht ganz und recht berührt sind; und die Hoffnung ist, ich sage das frei heraus, daß auch unter denen, die irgendwie von Parteien unter irgendwelcher Schlendrianparole gewählt sind, wenn sie unter die Einwirkung von Revolutionären kommen, gar manche innerlich erweicht, innerlich zart werden, daß sie dem Neuen, dem uralt Gerechten und Freiheitlichen zugänglich werden. Das wollen wir hoffen, um des Friedens willen, damit wir schnell zu den ruhigen, geordneten Zuständen der Zukunft kommen, die wir wünschen. Wenn es aber nicht möglich ist: das erste auf unserer Fahne ist nicht Ruhe und Ordnung, das erste auf unserer Fahne ist die neue Welt, der neue Geist, das neue Volk, der neue Zustand.
Wir Deutschen sind die Letzten in der Revolut1on, das legt uns die letzte Verpflichtung auf; wer zuletzt lacht, lacht am besten, wer zuletzt die politische Revolution macht, hat sie am gründlichsten und am besten zu machen. Was sich aus der Französischen Revolution ergeben hat, die westliche Demokratie, die Börsenrepublik, kann nicht unser Muster, nicht unser Ziel sein. Wir sehen anderes vor uns, die neue Demokratie ist vor uns.
Anmerkung:
Auszug aus einer Rede im Provisorischen Nationalrat des Volksstaates Bayern, laut stenographischem Verhandlungs-Bericht vom 18. Dezember 1918.
Originaltext: Aus Erkenntnis und Befreiung, 1. Jg., Heft 6 und 7 (1919). In: Ruth Link-Salinger (Hg.): Gustav Landauer - Erkenntnis und Befreiung. Suhrkampf Verlag 1976. Digitalisiert von www.anarchismus.at