E.J. Gumbel - Gustav Landauers Ende

Das Reichsjustizministerium hat dem Reichstag im Dezember 1923 ein dickes Aktenstück vor­ elegt: die Antworten des preußischen, des bayrischen und des mecklenburgischen Justizministers auf die vom Reichsjustizminister veranstaltete Umfrage über die politischen Morde. Formale Bedenken und Spartrieb überwogen im Reichstag: die Denkschrift wurde nicht gedruckt. Sie wurde mir jedoch zur Verfügung gestellt (und wird als Buch im Malik-Verlag erscheinen).

Der Abschnitt über die bayrischen Morde ist von dem bayrischen Justizminister Gürtner gezeichnet. Er enthält 160 bayrische Morde, vollkommen sachlich dargestellt. In 136 Fällen wird ausdrücklich zugegeben, daß die Erschießung zu Unrecht erfolgt ist. Eine Bestrafung hat nur im Falle der 21 katholischen Gesellen stattgefunden. Von den vielen bayrischen Morden wird wohl der Fall Landauer die Öffentlichkeit am stärksten interessieren. Hierüber heißt es in der Denkschrift:

Eine größere Anzahl von Erschießungen wurden in den ersten Maitagen 1919 in dem Strafvoll­streckungsgefängnis Stadelheim vorgenommen, das vielen der gegen München eingesetzten Regierungs­truppen als Gefangenensammelstelle diente. Von dem hier einschlägigen Fällen konnte am besten die Erschießung des Schriftstellers Gustav Landauer geklärt werden, der während der ersten Räterepublik Volksbeauftragter für Volksaufklärung gewesen war.

Am Morgen des 2. Mai 1919 erhielt der Vizewachtmeister Ernst Steppe des Freicorps Weilheim den Befehl, mit den Kanonieren Heilbronner, Meichelböck, Insam und Marchand den Landauer nebst drei starnberger Arbeiterräten in einem Lastkraftwagen nach Stadelheim zu verbringen. In Stadelheim befanden sich damals außer einer neutralen, vom Infanterieleibregiment gestellten Wache die Regiments­befehlsstelle des 1. bayrischen Schützenregiments, eine Wache von Regierungstruppen unter dem Befehl des zugleich mit dem Nachschub des ersten Schützenregiments betrauten Leutnants Christian Heuser, ferner sonstige Mannschaften vom Freicorps Epp, eine württembergische Kavalleriepatrouille unter Leutnant Freiherr v. Cotta, Leute vom Corps Lützow und Detachement Liftl, sowie Kraftfahrer und Nachrichtenpersonal.

Als Landauer bei seiner Ankunft in Stadelheim von Angehörigen dieser Truppenteile, die in größerer Anzahl vor dem Gefängniseingang standen, erkannt wurde, entstand unter den Soldaten Unruhe, und es fielen Rufe, man solle Landauer erschlagen oder erschießen. Zu Tätlichkeiten kam es aber zunächst nicht. Der Zug mit den Gefangenen traf im rechten Seiteneingang auf Leutnant Heuser, der auf die Meldung Steppes hin anordnete, daß die Gefangenen in den Neubau verbracht werden sollten. Auf dem Wege dahin, der unter der Führung eines Oberaufsehers angetreten wurde, wurden die drei Arbeiterräte von Insam, Meichelböck und Marchand geführt Ihnen folgte Landauer, von Steppe und Heilbronner begleitet. Obwohl Leutnant Heuser bei der Entgegennahme der Meldung Steppe auf den die Gefangenen umdrängenden Soldatenhaufen beruhigend eingesprochen hatte, wurden noch im rechten Seitengang erneut Vorwürfe und Verwünschungen gegen Landauer laut. Als Landauer sich dagegen zu rechtfertigen suchte und dabei von dem »schweinischen Militarismus« sprach, erhielt er, ohne daß er ausreden konnte, einen Schlag ins Gesicht.

Ob der Schlag von einem Offizier oder einem Mann geführt wurde, ist zweifelhaft. Leutnant Heuser kommt jedenfalls als Täter nicht in Betracht. Ohne daß es zu weitern Tätlichkeiten der ständig nachdrängenden Soldaten kam, war der Transport schon nahezu an die in den sogenannten Kirchenhof führende Tür gelangt, als plötzlich, wie die Begleitmann­ schaften übereinstimmend bekunden, ein Offizier von rückwärts nachkam und dem Zuge zurief: »Halt! der Landauer wird sofort erschossen.« Um die gleiche Zeit erschien der durch seine Kleidung (Sportanzug) auffallende Gutsbesitzer und Major a. D Freiherr v. Gagern, der sich als Führer einer freiwilligen Patrouille an dem Unternehmen gegen München beteiligt hatte. Er fragte Landauer, wer er sei, und schlug ihm, als dieser seinen Namen nannte, mit der Reitpeitsche unter gleichzeitigen Beschimpfungen ins Gesicht.

Dies war das Zeichen für eine allgemeine Mißhandlung, in deren Verlauf auch der zur Patrouille des Freiherr v. Cotta gehörige Ulan Eugen Digele, der schon vom Gefängnisein­gang her Landauer gefolgt war und ihm schon im vorderen Gang bei der Begegnung mit Leutnant Heuser den Hut heruntergenommen hatte, dem Festgenommenen einige Peitschenschläge versetzte. Die Bemühungen Steppes und Heilbronners, Landauer zu schützen, waren angesichts der Übermacht vergeblich.

Während dieser Mißhandlungen gab ein Mann, der plötzlich mit angeschlagenem Gewehr aufgetaucht war, unter dem Ruf: »Jetzt erschieße ich ihn!« auf nächste Entfernung einen Schuß in die linke Schläfe Landauers ab. Weil Landauer aber noch Lebenszeichen von sich gab, feuerte Digele mit seiner Armeepistole einen weitern Schuß in die rechte Schläfe ab.

Ein zum Wachtkommando des Infanterie-Leibregiments gehöriger Sergeant zog nunmehr Landauer den Mantel aus. Dabei kam Landauer auf das Gesicht zu liegen, und, weil man glaubte, er habe nochmals ein Lebenszeichen von sich gegeben, wurde ihm noch ein dritter Schuß mit einem Gewehr oder Karabiner in den Rücken versetzt. Jeder der drei Schüsse war für sich allein tödlich.

Nachdem der Tod Landauers eingetreten war, nahm ein unerkannt gebliebener Soldat Uhr und Kette weg, gab aber auf Verlangen des Digele diesem die Uhr. Ein weiterer Mann versuchte, Landauer den Ring vom Finger zu streifen, wurde daran aber durch das Eingreifen weiterer Soldaten gehindert. Der Mantel und nach der Ermittlung Digeles auch die Uhr wurden an die Angehörigen Landauers zurückgegeben. Die Persönlichkeit des Offiziers, der die Erschießung angeordnet hatte, konnte, obwohl nahezu hundert Personen im Ermittlungsverfahren vernommen waren, ebensowenig wie die Soldaten, die den ersten Gustav Landauer auf dem Wege zu seiner Ermordung und dritten Schuß abgegeben haben, ermittelt werden. Digele hatte sich am 19. März 1920 vor dem Gericht des Auflösungsstabes 56 (29. Division) in Freiburg im Breisgau wegen der Anklage eines Verbrechens des Totschlags, eines Vergehens der Körperverletzung und der Hehlerei zu verantworten. Das Gericht hielt für erwiesen, daß ein Offizier die sofortige Erschießung Landauers angeordnet hatte und Digele daher annehmen durfte, daß der erste Schütze in Ausübung eines rechtmäßigen Befehls gehandelt und die Tötung im Sinne dieses Befehls gelegen habe. Es sprach ihn daher von der Anklage des Totschlags frei, verurteilte ihm aber wegen eines Vergehens der gefährlichen Körperverletzung und eines Vergehens der Hehlerei zur Gesamtge­fängnisstrafe von fünf Wochen.

Gegen Freiherrn v. Gagern wurde durch Strafbefehl des Amtsgerichts München vom 13. September 1919 wegen der an Landauer begangenen Mißhandlung eine Geldstrafe von 500 Mark (damals gleich 80 Goldmark) festgesetzt. Daß er an der Erschießung irgendwie beteiligt gewesen wäre, hat sich nicht nachweisen lassen.

Man sieht: bei dieser Ordnungstruppe, den Befreiern Münchens vom roten Terror, müssen merkwürdige militärische Subordinationsbegriffe geherrscht haben. Leutnant Heuser erteilt nicht etwa den Soldaten Befehle, sondern spricht beruhigend auf sie ein. Auch gibt es offenbar kein Mittel, nachdrängende Soldaten aufzuhalten. Der Vizewachtmeister, dem Landauer anvertraut war, hatte keine Möglichkeit, den Gefangenen vor den Soldaten zu schützen. Dagegen werden vollkommen gesetzwidrige Befehle eines zufällig vorbeikommenden Offiziers sofort ausgeführt. Der Ausgang des Verfahrens? Der Untergebene, Digele, hat geglaubt, einen rechtmäßigen Befehl durchzuführen. Der Offizier aber, der den Befehl gegeben hat, ist nicht zu ermitteln.

Der Fall Landauer konnte von all diesen Fällen am besten aufgeklärt werden: weder die Persönlichkeit des Offiziers, der die Erschießung angeordnet hat, noch die der erschießenden Soldaten konnte ermittelt werden. Und doch war dies ein verhältnismäßig erfolgreiches Verfahren. Hier sind wenigstens an untergeordneten Vorfällen Beteiligte ermittelt und, wie man sieht, dem strengen Arm der Gerechtigkeit überliefert worden. In 125 andern bayrischen Fällen war nämlich überhaupt nichts zu ermitteln.

»In den übrigen Fällen sind die vom Staatsanwalt bei dem Landgericht München I teilweise im Anschlusse an vorherige militärgerichtliche Ermittlungen gepflogenen Erhebungen bis jetzt ergebnislos geblieben. Vielfach konnte nicht einmal zuverlässig der Tag der Erschießung ermittelt werden.« So sagt melancholisch die Denkschrift.

Aus: Die Weltbühne (Berlin), Jg. 20, 1. Halbjahr, Nr. 7, 14. 2. 1924, S. 191 – 193

Aus: Barrikade. Streitschrift für Anarchosyndikalismus, Unionismus und revolutionären Syndikalismus Nr. 3


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