Gustav Landauer - Vom Wahn und vom Staat
Betrachtet man sich die seltsam zitternde, zuckende, krause und verrückte Linie, die die Grenzen eines Staates, wie etwa des Deutschen Reiches, ausmacht, so gewahrt man sofort, daß in diesem Gebilde eines kindisch gewordenen oder gebliebenen Entwerfers nur ein Strich Wirklichkeitsinn hat: die Küste. Man könnte, von einein erhöhten Standpunkt aus, freilich sagen: die Küstenlinie sei auch wirr und wahnsinnig genug und der Geist, der die Staaten geschaffen, sei eben darum dem schöpferischen Naturgeist ähnlich, weil keine Vernunft darin sei, sondern nur die zwecklose Notwendigkeit der Natur. Das wäre so eine echte, rechte Pfaffen-, Sophisten- und Feiglingsrede. Denn ob die Natur Zwecke hat oder nicht, kann hier völlig außer Betracht bleiben, Menschenzwecke hat sie jedenfalls nicht. Der Staat aber will doch eben offenbar ein Gebilde sein, das den Zwecken der Menschengemeinschaft dient. Ich weiß, daß um diese Bemerkung herum die dürren und klappernden Gespenster des Naturrechtes, Vernunftrechtes und der historischen Rechtsschule spuken; auch die Darwinisten möchten sich wohl gern zum Wort melden. All dies Gelehrtengespräch sei unbeachtet gelassen; wir kommen darüber hinweg, wenn wir ohne weiteres zugeben, nicht zugeben vielmehr, sondern als eine Unterstützung unserer Thesen aufstellen, daß die Geschichte der Menschen und die Entstehung der Staaten in der Tat trostlose Ähnlichkeit mit dem Wachsen geologischer Schichten und ähnlichen Naturprozessen hat.
Die Häufung vieler kleiner Unbewußtheiten, veränderlicher Anpassungen und Unterwerfungen in Verbindung mit gelegentlichen Katastrophen hat wirklich die Staaten aufgebaut und die Geschichte gemacht. Trotzdem ist es das Kennzeichen des Menschen, daß er nach seiner Erinnerung und seinem Wissen, seiner Vergleichung und seinem Denken, der Bewußtheit seiner Triebe und seinem notwendigen und darum mächtigen Willen sein Leben und sein Zusammenleben bestimmt. Der Mensch setzt sich Zwecke und benutzt historisch überkommene Einrichtungen und Gebilde, benutzt die Möglichkeiten der Wirklichkeit, nicht, wie sie dumpf, aus ihrer Schwerkraft heraus weiterdrängen oder in ihrer Trägheit beharren wollen, sondern, wie er will.
Der Wahnsinn des Staates ist, daß er ein Zweckgebilde ist, daß er aber formen und Grenzen des Raumgebildes hat. Es gibt im Gemeinschaftsleben der Menschen unserer Zeit nur ein zweckmäßiges Raumgebilde: die Gemeinde und den Gemeindeverband. Die Grenzen der Gemeinde sind durchaus sinnvoll (was natürlich nur den Wahnsinn, aber im Einzelfall nicht den Unsinn und die Zweckwidrigkeit ausschließt): sie umschließen eine Örtlichkeit, die natürlich da aufhört, wo sie aufhört. Der Staat aber ist durchaus nicht eine ausgedehnte Örtlichkeit, wie die Gemeinde eine beschränkte ist. Was die Menschen im Staat vereinigt, ist nicht das Zusammenwohnen, sondern ein wirrer Haufe von Zwecken, die durch Geschichte, Herkommen und Gewalt in einander genestelt sind.
Daß der Staat durch Wanderung und Niederlassung von Stämmen entstanden ist, wissen wir. Da war ein Volk, das besetzte und besaß dann ein Land. Staat und Land war Eins: der Staat war eine Örtlichkeit, die besiedelt, bestellt und verteidigt werden mußte. Es war das Stammesland, das Land der Väter, das Vaterland. Die Erde, die bestellt wurde, die Menschen, die darauf zusammenlebten, und die Einrichtungen, die sie sich für ihre Zwecke gaben: diese Drei waren Eins; und Einrichtungen und Gesetze waren verbunden mit den Ahnen und dem Ahnden der Menschen. Sie wurzelten im Boden und schwebten doch wie eine Himmelswolke als Geist der Berge über dem Volk. Es war die echte Dreieinigkeit: Gott Vater der Boden, darauf sein Sohn das Menschenkind und darüber der heilige Geist.
Jetzt aber gibt es keinen Stammesstaat mehr und kein Vaterland und nur geheiligte Geistlosigkeit. Der Geist unserer Zeiten, ihre Sprache und Kunst, hängt nicht über dem Staat; die Wirklichkeit, von der diese Gebilde aufgestiegen sind, ist eine Wirklichkeit und ein Volk, die erst kommen sollen. Wir müssen den Knäuel Staat auflösen, wir müssen scheiden und trennen und destruktiv sein. Die Gemeinde des Geistes ist nicht an die Örtlichkeit gebunden, und sofern sie es noch manchmal ist, ist sie doch nicht an den Staat gebunden.
Das Deutschtum ist nicht das Zusammenwohnen, Zusammengedrängtsein eines Stammes, dem noch die Erinnerung an Unbehaustheit, Wanderzeit und Urbarmachung des Bodens im Blut sitzt, ist nicht ein Carre kampfbereiter Eroberer, die zwischen sich ein besiegtes Volk niederhalten und zum Schutz des Landes nach außen hin stets in Wehr und Warfen sein müssen (die Aufrechterhaltung und Auffrischung all dieser Dinge sind glatte Lügen und Geschichtsnarrheiten): Deutschtum ist Geist, ist verbindende Eigenschaft, ist Sprache. Wäre wirklich der Sprachgeist und das Deutschtum die Grundlage des sogenannten deutschen Staates oder Reiches, dann müßten die Kriege dieses Staates zusammenhängen etwa mit dem Krieg, den Lessing gegen Corneille führte, und die inneren Einrichtungen des Deutschen Reiches hätten eine Verwandschaft mit dem Rhythmus und dem Geist goethischen Gedichtes. Kaum Gymnasialprofessoren glauben daran.
Es ist ein großes, weitreichendes Ding, wenn es erst einmal so weit ist, daß der Geist der Menschen in den öffentlichen Angelegenheiten eben so vom Aberglauben gereinigt ist, wie in den privaten Dingen des Wissens und der Moral Einige (Wenige) durch die Jahrhunderte lange Arbeit weiser Menschen heute schon davon befreit sind. Darum kann gar nicht oft genug gesagt werden: Der Staat ist kein Land. Land ist Boden, nichts Anderes; die andere, die übertragene und lügnerische Bedeutung ist erst entstanden und geglaubt worden, als die Landesherren keine Landesherren mehr waren, aber immer noch Landesherren sein wollten.
Mit dem Boden zu tun haben die Landwirte und ihre Vereine, die Hausbauer und Bewohner, die Grundbuchvereine (wenn es welche gäbe; aber um des Grundbuches willen braucht man wahrhaftig keinen Territorialstaat) und die Gemeinden. Alle diese Einzelwesen sind vereinigt in dem, was man in gutem Deutsch ein Amt nennt. Amt oder Amtsbezirk ist ein Gemeindeverband.
Der Staat ist nicht zur Verteidigung des Landes da; vielmehr muß umgekehrt immer noch ab und zu das Land und der heimische Herd verteidigt werden, weil Staaten da sind.
Wir nähern uns jetzt der Erkenntnis, was Staat eigentlich ist. Staat ist ein Wahn oder eine Illusion. Damit ist nichts Schlimmes von ihm gesagt; Wahn oder Illusion ist nur ein anderer Name für Geist; Wahn oder Illusion ist Alles, was die Menschen über Fressen, Saufen und Begatten hinaus haben; Wahn ist auch in unser Essen, Trinken und Lieben hineingekommen. Wahn ist nicht nur jedes Ziel, jedes Ideal, jeder Glaube an Sinn und Zweck des Lebens und der Welt: Wahn ist jedes Banner, dem die Menschen folgen; jeder Trommelschlag, der die Menschen in Gefahren führt; jeder Bund, der die Menschen vereint und aus einer Summe von Einzelwesen ein neues Gebilde, einen Organismus schafft. Wahn ist das Höchste, was der Mensch hat; immer ist etwas von Liebe in ihm; Liebe ist Geist und der Geist ist die Liebe: und Liebe und Geist sind Wahn. Man glaube ja nicht, der Staat sei alter Wahn, der umgestoßen oder erneuert oder ersetzt werden müsse.
Es gibt nichts der Verehrung Würdigeres als alten Wahn, selbst wenn er im Hinschwinden ist oder im Wege steht; es gibt nichts Mächtigeres als alten Wahn, der noch lebendig ist und von Geschlecht zu Geschlecht geht; und es ist immer etwas Häßliches um neuen Wahn, der trüb, übergreifend und unsicher ist wie junge Hunde oder junger Wein. Der Staat ist nicht so ein alter Wahn und ist nicht so ein wunderlich unheiliger junger Wahn. Der Staat ist nie jung gewesen und kann nie heilig werden. Er ist infam, ganz anders als das, was Voltaire infam genannt hat.
Es gibt aber echten Wahn und falschen Wahn. Es gibt lebendigen und notwendigen Wahn und es gibt hergestellten und auferlegten Wahn. Der echte Wahn sitzt im Innern des Individuums und es schafft die Gleichheit des Wahnes in den Mehreren das äußere Gebilde. Der echte Wahn ist verbindende Eigenschaft. Die Liebe ist eine Bereitschaft und Wirklichkeit, die im Menschen drin sitzt; sie hat die Familie gegründet; sie und ihre dionysische Hingabe hat die Tragödie und die Götterbilder geschaffen; so auch war das Wesen des Christentums, als es im Mittelalter lebendig war: Liebe und menschenverbindender, allverbindender Geist. So wäre der Sprachverband der Nation, wenn der Staat ihn nicht bedrängte und beengte; so ist die Rasse der Juden trotz allem Staat; so ist es überall, wo eine Wirklichkeit: Klima oder Geblüt oder Geschichte oder zusammenschweißende Not irgendwo in den Seelen eine Gleichheit und aus den Personen einen Bund, eine nicht juristische, sondern geistige Person, einen Organismus höherer Ordnung geschaffen hat. So war der Stammesstaat, von dem wir gesprochen haben; so war die Stadtrepublik. Aber so ist nicht der Staat. Der sitzt nicht in den Herzen und Seelenleibern der ihm Angehörigen.
Der Staat ist nie zur Individualeigenschaft, nie zur Wahrheit, nie zum echten Wahn geworden. Vergeblich hat es seit dem Ausgang des Mittelalters der Staat versucht, an die Stelle der verfallenden Städterepubliken, Stammesbünde, Gilden und Brüderschaften, Dorfgemeinden, Stiftungen und Korporationen zu treten. Der echte Wahn trägt den Geist in Alles hinein, was er berührt; er hat den alten Städten, den Häusern, den toten Dingen des Gebrauches Form und Schönheit und Leben gegeben; der Staat aber hat keinen Geist, hat nie einem Dinge Schönheit geschenkt, hat alles kalt und tot gelassen oder gemacht. Form an toten Dingen ist Notwendigkeit mit dem Schein der Freiheit; die Form, in der lebendige Wesen sich zum Bunde gestalten, zu einem höheren Organismus vereinen, ist Notwendigkeit mit dem Gefühl der Freiwilligkeit. Die Form und Unform des Staates aber ist der Zwang und die Gewalt.
Darum ist der Staat ein falscher Wahn, weil er Zwecke, die nicht durch Oertlichkeit, die überhaupt nicht mit einander verbunden sind, die nur in kleinem Kreis oder umfassenden, für sich bestehenden Verbänden zu erreichen sind, an die Oertlichkeit, das Territorium, das Raumgebiet anklebt. Darum ist der Staat, obwohl er kein Nationalstaat ist, immer wieder genötigt, sich in den wundervollen echten Wahn der Nationalität wie in einen Lügenmantel einzuhüllen: so aber wird die Sache nur schlimmer, die abscheulichen und schmutzigen Nationalitätenkämpfe innerhalb des Staates entstehen daraus, wo doch die Angelegenheiten jeder Nation von ihr selbst (das heißt: vom Sprachverein) zu erledigen sind, und die Staatskriege werden durch nationale Überhitzungen lügnerisch motiviert, wo doch nie in Wahrheit ein Krieg um der Sprache und Sitten willen geführt worden ist. Die Nationalität ist Echtheit und Liebesbund und Geist genug und braucht keinen Staat, um als Zweck in den Menschen zu wohnen und aus ihnen heraus ein Gebilde der Schönheit zu schaffen. Die anderen Zwecke aber, die noch in den Staat eingesperrt sind, werden nur dann frei werden und Vereine der Menschen gründen, wenn sie vom Wahn echt und ganz durchtränkt, durchgeistigt und durchblutet sind. Wenn die Verbindung der Menschen zu nützlicher Arbeit Liebe sein wird, Liebe zum Gleichen nämlich, Liebe zur Sache, denn für Menschen untereinander ist Gerechtigkeit gegen Alle besser als Liebe zu Etlichen, und wenn dann in Gemeinden und Bünden jeder nach Wunsch und Geist an den Tisch
der Kultur geht: dann wird kein Staat mehr sein, es sei denn im Verein der Staatsfreunde, die dann nach Herzensdummheit unter sich Staat spielen mögen, so wie sie heute Skat spielen, die Anderen aber in Ruhe zu lassen haben.
Da den Menschen der verbindende Geist, der Gruppengeist und der Gesamtgeist, der Geist der Verständigung in den Dingen der Selbstverständlichkeit und der Geist der Freiheit und des Charakters in den Dingen der Selbständigkeit abhanden gekommen oder traurig geschwächt worden ist, müssen sie in anderer Weise dirigiert, befehligt und in Schranken gehalten werden: der Geist wurde ersetzt durch die Geistlösigkeit oder den Staat. Der Staat oder die an Gesetze gebundene und mit den Waffen der Gewalt ausgerüstete Bureaukratie ist die letzte Instanz in all den menschlichen Angelegenheiten, für die er jeweilig Geltung hat, und den Umfang seiner Gewalt bestimmt eine Abwechselung von tollem Interesse und abgespannter Gleichgiltigkeit, die man fast Mode nennen möchte. Es gibt kein Gebiet des Individuallebens und Gruppenlebens, das nicht schon staatlich geregelt worden wäre, und es sind zu den verschiedenen Zeiten stets verschiedene Gebiete, die gerade staatsfrei sind. Früher kümmerte er sich um Rauchen und Kaffeetrinken, aber nicht um die Eheschließung; jetzt hat er dafür eine Bedürfnisanstalt errichtet und läßt die anderen Genüsse frei. Ich kann nicht ins Einzelne gehen, will auch die Ruhe bewahren und von den Missetaten nicht weiter reden. Ich stelle nur ein paar Thesen auf.
Erstens: es ist unzweckmäßig und undurchführbar, die verschiedensten Zwecke durch die Zentralgewalt des Staates zu regeln. Jeder Zweck braucht seinen besonderen Zweckverein; und wo sich die Zwecke berühren, bedarf es der Zweckverbände, und wo sich die Zwecke durchkreuzen, bedarf es der Schiedsämter.
Zweitens: es ist kulturhemmend und kulturbedrohend, daß der Staat die Tendenz hat und haben muß, nicht nur die Zwecke vereinigter Menschen zu erreichen, sondern Selbstzweck zu sein. Selbstzweck sein sollte nur der echte und edle Wahn. Die Menschen verehren im Staat eine unsichtbare und heilige Macht, der sie sich unterwerfen. Die Menschen sollen unsichtbare und heilige Macht verehren und sich ihr unterwerfen. Ueber allen Zwecken des Lebens soll ein Sinn, eine Heiligung, ein Wahn, ein Etwas wohnen, um dessen willen gelebt und mitgelebt wird. Der Staat aber, wenn man ihm die Zwecke nimmt, die Zwecke, die er nicht erreichen kann und die er verpfuscht, ist überdies nichts, ein vollendetes Nichts. Es stellt sich also heraus, daß der Staat um der Menschen willen da ist, daß er aber den Menschen nicht helfen kann; daß die Menschen um des Staates willen da sind, daß er aber den Menschen nichts bedeuten kann. Wir finden es nicht, das Dunkle und Überwältigende, das uns, das uns Allen mit einander Etwas bedeuten kann; die Bedeutung des Lebens und der Welt finden wir nicht; Suchende sind wir. Das aber können wir finden, das uns zum Leben helfen und, dienen kann; die zweckmäßige Art der Menschenvereinigung um des Nutzens und der Kultur willen. Wer weiß: ob nicht, wenn wir endlich den Zwecken des Lebens, die eigentlich völlig klar vor uns liegen, stark und charaktervoll nachgehen, ob dann nicht auch das Rätsel des Lebens, der große, hinreißende Wahn in der neuen Menschenkultur wieder aufsteigt? Das mag sein oder nicht sein: der Staat jedenfalls ist den irdischen Dingen ein Tropf und für himmlische Sehnsucht ein Nichts.
Anmerkung:
*) Zuerst im Jahre 1907 in einem größeren Zusammenhang unter dem Titel "Dreißig sozialistische Thesen" in der "Zukunft" veröffentlicht.
Aus: "Der Sozialist. Organ des Sozialistischen Bundes", 2. Jahrgang, Nr. 12, 15.6.1910. Digitalisiert von der Anarchistischen Bibliothek und Archiv Wien. Nachbearbeitet (Scanungenauigkeiten entfernt, ae zu ä, That zu Tat usw.) von www.anarchismus.at.