Erich Mühsam - Vom politischen Kasperltheater
Im Reiche und in Bayern haben wir den erhebenden Anblick genossen, wie Links geschlossen gegen Rechts, wie der Fortschritt gegen die Reaktion marschierte, und wie die Macht des "schwarzblauen Blocks" ein für allemal gebrochen wurde. Die Sozialdemokraten haben vier und eine viertel Million Stimmen gesammelt und einhundertundzehn Abgeordnete in den Reichstag entsandt. Nun muss sich alles, alles wenden.
Der liebe Gott hat die Welt ungemein sinnvoll eingerichtet. Die Dinge, die zueinander gehören, hat er wie im Museum überall zueinander gestellt. Deutschland hat die stärkste sozialdemokratische Partei - vier und eine viertel Million Republikaner: nirgends in der Welt steht die Monarchie auf sichererem Grund als in Deutschland. Deutschland hat die tüchtigste sozialdemokratische Partei - vier und eine viertel Million Antikapitalisten: eine Kapitalanlage in deutschen Unternehmungen gilt überall als die solideste Vorsicht. Deutschland hat die erfolgreichste sozialdemokratische Partei - vier und eine viertel Million internationale Revolutionäre, vertreten durch einhundertundzehn zähnefletschende Mandatare: Der deutsche Soldat ist der verlässlichste, den es gibt, in seiner Seele ist noch kein zweifelnder Gedanke eingezogen, wenn der Kaiser eines Tages den beliebten "Ernstfall" erlebt, dann kann er sich auf vier und eine viertel Million sozialdemokratischer Wähler, repräsentiert durch einhundertundzehn Abgeordnete, verlassen.
Auch im engeren Vaterlande sind heisse Schlachten geschlagen worden. Die "vereinigten Zentrumsgegner", Liberale, Sozialdemokraten und Bauernbündler, zogen mit gemeinsamen Kandidatenlisten ins Feld, um die schwarze Majorität des Landtags zu besiegen. Fast ein Dutzend Sitze verloren die Ultramontanen in diesem Gemetzel, und wenn sie zusammen mit den Konservativen auch noch über eine Stimmenzahl von einigen neunzig verfugen, wogegen der "Linksblock" bloss 69 Vertreter hat, so sagen uns doch die Zeitungen der vereinigten staatserhaltenden und staatsstürzlerischen Zentrumsgegner täglich, dass die Differenz das nächste Mal noch kleiner sein wird, wenn man inzwischen nur fleissig zusammenhält. Das nächste Mal - das ist nach sechs Jahren. Und nach aber und aber sechs Jahren wird die Zentrumsmajorität vielleicht gebrochen sein, und dann bekommt Bayern eine neue Wahlkreiseinteilung und jede freiheitliche Sehnsucht erfüllt sich. Nur Geduld muss man haben.
Vorerst wurde der bisherige Fraktionsvorsitzende des Zentrums im Reichstage, Freiherr von Hertling (1) , bayerischer Ministerpräsident. Der soeben konstituierte freiheitliche Reichstag aber erwählte zu seinem Präsidenten den ultramontanen Dr. Spahn.
Ein süsser Trost ist uns geblieben: München ist in Reichs- und Landtag ausschliesslich sozialdemokratisch und liberal vertreten. München verfügt auch über eine liberale Stadt- und Polizeiverwaltung, und die liberalen und sozialdemokratischen Stadtväter haben einwandfrei bewiesen, dass sie für die Erhaltung von Tugend und Sittlichkeit in dieser Stadt imstande sind, unabhängig von schwarzen Einflüssen, ihre Mucker selbst zu stellen. (2)
Fußnoten:
1.) Georg von Hertling (1843-1919), war u.a. 1917/1918 Reichskanzler
2.) Auch hier hat sich nichts geändert in den letzten 86 Jahren. München ist weiterhin sozialdemokratisch, und beweisen so, dass sie die besseren Christdemokraten sind, oder?
Aus: KAIN - Zeitschrift für Menschlichkeit No. 11, Februar 1912.
Originaltext: Erich Mühsam. Der Humbug der Wahlen. Verlag Klaus Guhl, 1998. Digitalisiert von www.anarchismus.at