Erich Mühsam - Aus Ascona
Berlin lag mir schon wieder derart im Magen, daß ich ehrlich froh war, als es mir auch im Rücken lag. Jetzt sitze ich fern dieser Lasterhöhle am Lago Maggiore und denke in nicht gerade liebenswürdiger Erinnerung der literarischen Nachtcafes, in denen pomadetriefende impotente »Ästheten« bei Absinth und Opiumzigaretten ihre Georgien[Reminiszenz an Stefan George] feiern; der »Cabarets« (die Franzosen mögen mir die mißbräuchliche Bezeichnung einer schlechten Sache mit einem guten Namen verzeihen), in denen der fettleibigsten Tiergartenbourgeoisie in stilisierten Zoten »Berliner Humor« vorgesetzt wird; der Friedrichstraße, des einzigen Orts Berlins, aus dem ein Dichter Poesie schöpfen kann, sofern es ihn der Mühe nicht verdrießt, der Moral durch die Finger und den Huren, Luden und Strichjungen ins Herz zu sehen; und da ich zu den nicht alle werdenden gehöre, die noch immer auf den Tag hoffen, da die Massen sich ihrer Sklaverei wütend bewußt werden und in gesundem Haß gegen ihre Peiniger ohne Sentimentalität zum eignen Nutzen verfahren, so denke ich auch in stiller Wehmut der liebevollen Fürsorge, mit der Herr von Borries abgerichtete Spürhunde, die auf den Namen Spitzel hören, bewachend hinter mir herlaufen hieß. Berlin! Jeder gute Deutsche muß »seine« Reichshauptstadt gesehen haben, muß aus der »schönsten Stadt der Welt« drei Schock Ansichtskarten an sämtliche Cousinen, Freundinnen und Nachbarinnen gesandt haben, muß einmal die Linden lang, zweimal die Siegesallee hin- und zurück- und dreimal um den Rolandbrunnen herumgegangen sein, muß 2½ Stunden am Lustgarten gestanden haben, um allerhöchsten Augen das frische Taschentuch zu zeigen, das zum patriotischen Hurra in der Luft wedelt. Und muß noch vieles mehr.
Oder fragt einen Deutschen, der in Berlin war, ob er nicht im Reichstagsgebäude Eugen Richters [Führer der Freisinnigen Volkspartei] und Bebels Platz beschnuppert hat; ob er nicht im Apollotheater Linckeschen Gassenhauern gelauscht und in Siegmund Lautenburgs Residenztheater sich an den ins Deutsche verflachten französischen Schweinereien geweidet hat. Fragt ihn, ob ihn nicht ein Autotaxameter an allen Sehenswürdigkeiten vorbeikutschiert hat, und ob er nicht mit derselben Begeisterung Begas' besoffenen Bismarck wie Schlüters großen Kurfürsten, den Menzelsaal in der Nationalgalerie, wie die Kanonenparade im Zeughaus, Hermann Tietz' Abteilung für Weißwaren und Unterwäsche, wie im neuen Kaiser-Friedrich-Museum den Saal der Gobelins von Raffael betrachtet hat. –
Gott vergebe mir die Sünde, daß ich eine Schrift über Ascona – diesen entzückendsten Fleck Erde, wo von den dunkeln Berggipfeln sehnsüchtige Schönheit sich im grünwelligen See spiegelt – mit einer Kritik meiner teuren Landsleute beginne. Aber tagtäglich, wenn von Locarno hertrottend, eine Kompanie übelster deutscher Reisephilister mit all ihrer Blödheit die herrlichen Gestade des Lago Maggiore entlanggafft, drängt sich mir der Vergleich auf mit den prächtigen Menschen, die hier ihre Heimat haben, mit diesen Grenzitalienern mit den dunkeln offenen Augen und der frohen Lebensselbstverständlichkeit, ein Vergleich aber auch mit den paar Ausnahmsdeutschen, die hier ihr absonderliches Leben fristen und derentwegen ich dieses weiße Papier mit Tinte schwarz färbe ... Wenn etwas typisch ist für den Charakter einer Bevölkerung, so ist es ihre Arbeiterbewegung; und wer als vorwärtsdrängender Kritiker das kennengelernt hat, was in Deutschland unter dem Namen Arbeiter-»bewegung« stagniert, dessen Laune müßte eitel Zuckerwerk sein, wollte er dem deutschen Volkscharakter gegenüber liebenswürdig bleiben.
Ich für meine Person habe zu lange im Kampfe für die Befreiung der Arbeiterschaft und für den Sozialismus dem feindlich gegenübergestanden, was in Deutschland Arbeiterbewegung heißt, um dem Charakter der großen Volksmasse in Deutschland, der ganz und gar dem Charakter des Besitzmobs entspricht, die geringste Sympathie entgegenbringen zu können. Und wenn ich angesichts des wahlbeflissenen Proletariats, das das Seinige getan zu haben wähnt, wenn es 3.000.000 sozialdemokratische Stimmen ins behördlich sanktionierte Cioset zerrt, nicht lache, bis ich mir den Bauch halte, wie es einige kluge Individualisten tun, sondern mit Zornesworten weiterkämpfe für die Arbeiter – und gegen ihre Führer, so mag das wohl das Rudiment eines atavistischen Nationalbewußtseins sein, das mich selbst für die Deutschen noch auf die Stunde revolutionärer Selbsterkenntnis hoffen läßt ...
... An dieser Stelle mag die Wiedergabe eines Liedes am Platze sein, das mir jüngst in einer verbrecherischen Stunde entfuhr und das den Vegetarier als Sammelbegriff vielleicht besser illustriert als eine weitschweifige Charakteristik.
Der Gesang der Vegetarier. Ein alkoholfreies Trinklied
(Melodie Immer langsam voran)
Wir essen Salat, ja wir essen Salat
Und essen Gemüse früh und spat.
Auch Früchte gehören zu unsrer Diät.
Was sonst noch wächst, wird alles verschmäht.
Wir essen Salat, ja wir essen Salat
Und essen Gemüse früh und spat.
Wir sonnen den Leib, ja wir sonnen den Leib,
Das ist unser einziger Zeitvertreib.
Doch manchmal spaddeln wir auch im Teich,
Das kräftigt den Körper und wäscht ihn zugleich
Wir sonnen den Leib und wir baden den Leib,
Das ist unser einziger Zeitvertreib.
Wir hassen das Fleisch, ja wir hassen das Fleisch
Und die Milch und die Eier und lieben keusch.
Die Leichenfresser sind dumm und roh,
Das Schweinevieh – das ist ebenso.
Wir hassen das Fleisch, ja wir hassen das Fleisch
Und die Milch und die Eier und lieben keusch.
Wir trinken keinen Sprit, nein wir trinken keinen Sprit,
Denn der wirkt verderblich auf das Gemüt.
Gemüse und Früchte sind flüssig genug,
Drum trinken wir nichts und sind doch sehr klug,
Wir trinken keinen Sprit, nein wir trinken keinen Sprit,
Denn der wirkt verderblich auf das Gemüt.
Wir rauchen nicht Taback, nein wir rauchen nicht Taback,
Das tut das scheußliche Sündenpack.
Wir setzen uns lieber auf das Gesäß
Und leben gesund und naturgemäß.
Wir rauchen nicht Taback, nein wir rauchen nicht Taback,
Das tut nur das scheußliche Sündenpack.
Wir essen Salat, ja wir essen Salat
Und essen Gemüse früh und spat.
Und schimpft ihr den Vegetarier einen Tropf,
So schmeißen wir euch eine Walnuß an den Kopf.
Wir essen Salat, ja wir essen Salat
Und essen Gemüse früh und spat.
... Wie ein wandelnder Protest gegen die alkoholenthaltsame Tugendboldigkeit der Vegetarier spukt die Gestalt eines Mannes durch Ascona, der meist ein wenig wankend, mit unermüdlicher Geschäftigkeit von Kneipe zu Kneipe trabt. Es ist ein baltischer Baron, ein Hüne von Figur, dem sich die Merkmale des Gewohnheitstrinkers allmählich um Nase und Beine zeichnen. Dieser Mann verdient, grade weil er in die vegetarische Umgebung paßt, wie ein Kunstwerk in den Berliner Tiergarten, eine ausführliche Betrachtung. Denn eine solche, wie von einem andern Planeten hergeschneite Persönlichkeit verlockt zu so viel Vergleichen mit den Sonderlingen, die hier Durchschnittsdeutsche sind, daß ich mir die Unterlassung einer Gegenüberstellung nicht würde verzeihen können.
Baron Alexander v. R.-L. ist stocktaub und versteht das, was man ihm zu sagen hat, nur, wenn man es ihm mit einiger Kraftentfaltung ins Ohr brüllt. Um so komischer mutet das »hör'n Se« an, das er seiner von unverfälscht kurländischem Dialekt gefärbten Rede nach jedem dritten Wort einschaltet.
Er hat eine bewegte Vergangenheit hinter sich. Jüngst gab er mir eine kleine, mit viel Humor geschriebene Skizze zu lesen, in der er seine tollen Kindheitsstreiche erzählt. Danach muß die Lust zu Abenteuern schon in seiner frühesten Jugend in ihm gelegen haben. Als das verwöhnte, nur manchmal wegen seiner gar zu wüsten Streiche verhauene Kind einer deutschrussischen Adelsfamilie wuchs er auf. Sein Hang zu Abenteuern ließ ihn Seemann werden. Er diente vom Schiffsjungen auf, wurde Matrose und befuhr von Riga aus die Ostseehäfen. Ich glaube, bis England kam er auf seinen Reisen. In dieser Zeit wurde er schwerhörig und mußte deswegen den Seemannsrock an den Nagel hängen. Jetzt wurde er Goldwäscher im Ural, in der Hoffnung, hierbei große Reichtümer zu erjagen. Diese Hoffnung betrog ihn, und jetzt sumpft er, hergelockt durch seinen vegetarischen Bruder, der hier auf seiner eigenen Scholle nach allen Regeln naturgemäßer Enthaltsamkeit lebt, in Ascona herum. Er ist jetzt 38 Jahre alt – ob's ihn hier lange, ob's ihn gar für immer hier halten wird? Ich kann's so wenig wissen wie er selbst oder sonst jemand. Wie er zum Trinker geworden ist, läßt sich mit Sicherheit natürlich nicht nachweisen. Ich denke mir, daß ihm die Liebe zum Spiritus als echtem Kurländer schon im Blut liegt, in seiner Matrosenzeit konnte er ihr ungezügelt folgen, und als dann die Taubheit dazukam, war es nur selbstverständlich, daß ihm der Alkohol vernehmlicher Trost zusprechen konnte als die Menschen, die um ihn waren. Er ist aber gleichzeitig auch ein Opfer seiner beschränkten materiellen Verhältnisse. Sein Vater hielt ihn sehr knapp, 80 Rubel monatlich — das sind wenig über 200 Franken — ist herzlich wenig für einen Menschen mit solchen Bedürfnissen, wie sie R.s Herkunft und Erziehung großgezogen haben. Sich nach der Decke zu strecken ist seine Sache so wenig wie die jedes andern, der das Gehäuse landläufiger Lebensgewohnheiten gesprengt hat. So konnte er Schulden nicht vermeiden, über deren Bedrückung ihm nur die intensive Beschäftigung mit der Weinflasche hinwegzuhelfen vermochte. Natürlich bewirkte aber die hierdurch hervorgerufene Steigerung der Ausgaben eine ständige Erhöhung der Schulden, und die Rechnung potenzierte sich zum circulus viciosus. Daß den lammfrommen Vegetariern solche Überlegungen nicht aufkommen, wenn sie denn feuchtfröhlichen Baron begegnen, versteht sich von selbst. In tiefster Seele mit dein eigenen Lebenswandel zufrieden, dankerfüllt gegen ihr Schicksal, weil es sie an den Klippen solcher Verworfenheit gnädig vorbeigesteuert hat, schlagen sie die wasserblauen Augen zum Firmamente auf und strafen den Knecht des Alkohols mit Blicken abgründigster Verachtung. Es gibt ja auch nichts Erhebenderes, als die eigenen Vorzüge an den Schwächen eines Mitmenschen zu messen. R. seinerseits, der zu den bestgearteten Charakteren gehört, die ich je angetroffen habe, ist gegen die Vegetarier von einem unbegrenzten Haß beseelt, der jedoch durch die alberne Verächtlichkeit, mit der er von ihnen betrachtet wird, nicht hervorgerufen ist, sondern nur verstärkt wird. Auch ist der Grund nicht etwa seine Intoleranz gegen das Temperenzlertum der Vegetarier. Das erscheint ihm einfach verrückt, mindestens total absurd. – »Wenn man nicht säuft«, fragte er mich einmal, »was soll man denn noch?« – Die Ursache seiner ingrimmigen Gesinnung ist vielmehr eine unendlich rührende. Er kann es den Vegetariern nicht verzeihen, daß sie seinem Bruder, von denn er ungeheure Stücke hält, ihre Ideen aufoktroyiert haben. Zum besseren Verständnis dieses Gefühls muß man sich vergegenwärtigen, wie stark Menschen von aristokratischer Abkunft das Familienehrgefühl im Blut sitzt. Sich selbst hält R. zur würdigen Repräsentation seines Namens verloren, deshalb möchte er seinen Bruder allen Glanz ausstrahlen sehen, der von dem Adelswappen der Familie ausgeht. Jetzt sieht er aber diesen Bruder, den er über alles liebt und verehrt, in einer Lebensweise aufgehen, die ihm über alle Maßen verächtlich erscheint. Daher sein tiefer Haß gegen die, die er der Verführung seines Bruders bezichtigt. Als er von mir erfuhr, daß ich diese Broschüre schreiben wolle, bat er mich, ich solle den Vegetariern »feste auf die Kapuze hauen«, aber seinem Bruder möchte ich nicht zu nahe treten: »Das ist ein guter Mensch. – Von mir können Sie ja schreiben, daß ich ein altes versoffenes Luder bin.«
Seine Leistungsfähigkeit im Trinken ist ungeheuerlich, und sie ist in letzter Zeit noch dadurch gesteigert, daß er sich in eine fesche Italienerfrau unglücklich verliebt hat. »Sie ist mir ins Herz gekrochen«, erzählte er, »und hat mir den Kurbel verdreht.« Schon morgens, wenn er mich trifft, sind seine ersten Worte: »Hören Sie, liebes, gutes Herr Mühsamchen, kommen Sie schmoren, hör'n Se!« und seine Freude ist riesengroß, wenn man mal mit ihm »schmoren« geht.
Seine Konstitution ist von einer fabelhaften Widerstandskraft. Es kommt vor, daß er manchmal tagelang nicht das Geringste ißt, dazwischen aber ganz unglaubliche Mengen Alkohol vertilgt. Trifft man ihn dann nach so einer vier- bis fünftägigen Fastenzeit, so sieht er aus, als ob er eben einen ganzen Ochsen verzehrt habe. Ob die schmachtlappigen, immer nur um ihr bißchen Leiblichkeit angstvoll besorgten Vegetarier, die bei der geringsten Unregelmäßigkeit in der Magenversorgung umkippen, wirklich Grund haben, angesichts der imponierenden Vitalität dieses Riesen, mit ihrer naturgemäßen Überlegenheit aufzutrumpfen, möchte ich mindestens doch sehr in Frage stellen. Ich für meine Person blicke die kolossale Kraft, die eine Lebensweise, wie sie R. übt, voraussetzt, viel eher mit Hochachtung als mit Geringschätzung an, während ich nicht behaupten kann, daß mir die Art, wie die Vegetarier sich zu Sklaven ihres Verdauungsapparates machen, den geringsten Respekt abnötigt.
Jedenfalls gehört für mich dieser Mann mit seinem gesunden und natürlichen Menschenverstand und mit dem tiefen echten Leid hinter der roten Nase zu den sympathischsten Persönlichkeiten und angenehmsten Gesellschaftern, die ich in Ascona gefunden habe. Das will ich den männlichen und weiblichen Tugendjungfern gegenüber, die sich mit so gewaltigem sittlichem Aufwand über ihn entrüsten, doch ausdrücklich betonen.
Originaltext: http://gutenberg.spiegel.de/buch/4653/6