Emma Goldman - Die Tragödie der Frauenemanzipation
Ich beginne meinen Artikel mit einem Geständnis; ungeachtet aller politischen und ökonomischen Theorien, welche die fundamentalen Verschiedenheiten zwischen den mannigfachen Gruppierungen innerhalb der Menschheit behandeln; ungeachtet aller Klassen- und Rassenunterschiede; ungeachtet aller künstlich gezogenen Grenzlinien zwischen den respektiven Rechten des Mannes und der Frau — bin ich der Meinung, dass es eine Etappe gibt, woselbst all diese Verschiedenheiten sich begegnen und zu einem einigen Ganzen verschmelzen.
Keinen Friedensvertrag will ich damit vorschlagen. Der allgemeine soziale Antagonismus, welcher unser ganzes öffentliches Leben gegenwärtig erfüllt und welcher eine Folge der Kräftemessung von einander feindlichen und widerspruchsvollen Interessen ist, wird ohnedies sofort in Stücke zerfallen, wenn die Reorganisation unseres sozialen Lebens, basiert auf den Prinzipien ökonomischer Gerechtigkeit, eine Wirklichkeit geworden ist.
Friede und Harmonie zwischen den Geschlechtern und Individuen hängen nicht notwendiger Weise von einer oberflächlichen Gleichmacherei aller menschlichen Geschöpfe ab; auch erfordern sie keineswegs die Ausscheidung von individuellen Charakterzügen oder Eigenheiten. Das Problem, welches uns heut zu Tage konfrontiert, und das die nahe Zukunft lösen muss, ist ja gerade: wie und auf welche Art der Mensch sich selbst, sein eigen Ich sein soll und kann, gleichzeitig aber auch sich eins fühlen kann mit seinen Mitmenschen, wie so er tief und innerlich empfinden mit allen menschlichen Wesen, zur selben Zeit jedoch seine eigenen, ihm innewohnenden Eigentümlichkeiten sich bewahren kann.
Dies allein erscheint mir als die Grundlage, auf welcher Masse und Individuum, der wahre Demokrat und die echte Individualität, Mann und Weib einander ohne Widerstreit und Gegensatz begegnen dürfen. Das beide Teile belebende Motto darf nicht lauten: "Verzeiht eines dem anderen!"; es muss eher sein: "Versteht eines das andere!" Der oft zitierte Satz von Madame de Stael: "Alles zu verstehen, bedeutet Alles zu vergeben!" hat niemals grossen Eindruck auf mich gemacht; er hat den Beigeschmack der Beichte und der Gedanke, einem Mitmenschen etwas zu verzeihen, trägt stets mit sich die Empfindung von pharisäerhafter Selbstüberhebung. Es genügt, wenn wir unsere Mitmenschen begreifen. Und dieses einleitende Geständnis vertritt und erklärt auch die Grundansichten meiner Anschauung über die Emanzipation der Frau, ihre Wirkungen auf das ganze Geschlecht.
Die Emanzipation sollte es der Frau ermöglichen, das natürlich Menschliche in ihr zu äussern. Alles in ihrem Bereiche, das sehnsüchtig nach Kundgebung und Handlung drängt, sollte seinen vollkommensten Ausdruck finden; künstliche Scheidelinien sollten zertrümmert, vom Pfade zur immer grösseren Freiheit sollten alle jene Spuren von Jahrhunderten der Unterwerfung und Sklaverei weggeräumt werden... Darin bestand die ursprüngliche Aufgabe der Frauenrechtsbewegung. Allein, leider haben die bislang erzielten Resultate die Frau isoliert und sie all jener Grundquellen des wahren Glückes beraubt, welche von enormster Wichtigkeit für sie sind.
Eine bloss äusserliche Emanzipation hat aus dem modernen Weibe ein künstliches Wesen gemacht, das an die Produkte französischer Gärtnerkunst gemahnt: arabeskes Laubwerk und Gesträuch, Pyramiden, Räder und Kränze — alles, nur nicht diejenigen Formen, welche die Pflanzen und Bäume durch die Entfaltung ihrer eigenen Triebe erreicht hätten. Solche künstlich gewachsene Pflänzlein des weiblichen Geschlechtes können wir in grosser Anzahl, besonders in der sogenannten intellektuellen Sphäre unseres Lebens, finden.
Freiheit und Gleichheit für die Frau! Welche Hoffnungen und Ausblicke gestatteten diese Worte, als sie zum ersten Mal geäussert wurden von den Edelsten und Kühnsten jener Tage. Die Sonne mit all ihrem strahlenden Licht, ihrer Herrlichkeit sollte einer neuen Weib aufgehen; einer Welt, in welcher die Frau frei ihr eigen Glück bestimmen durfte, gewiss ein Ziel, würdig all des Enthusiasmus, des Mutes, der Ausdauer und unaufhörlichen Anstrengung der enorm grossen Schar von Pionieren beider Geschlechter, welche ihr Alles einsetzten gegen eine Welt des Vorurteils, der Unwissenheit.
Auch meine Hoffnung ist jenes leuchtende Ziel, aber ich bestehe darauf, dass die Emanzipation der Frau, wie sie augenblicklich dargelegt und praktisch ausgeführt wird, dieses Ziel nicht erreicht hat. Die Frau befindet sich jetzt der Notwendigkeit gegenüber sich von der Emanzipation emanzipieren zu müssen, wenn sie wirklich darnach Verlangen trägt, frei zu sein. Wohl mag dies so Manchem paradox klingen, aber es ist nichtsdestoweniger nur zu wahr.
Was hat die Frau durch ihre sogenannte Emanzipation erreicht? Gleiches Wahlrecht in manchen Staaten. Hat dies unser politisches Leben, seine Atmosphäre gereinigt, wie viele wohlmeinende Befürworter dieser Reform verkündeten? Ganz gewiss nicht; auch die wahlberechtigte Frau bietet keinerlei Garantie für eine je mögliche Reinigung, Auslüfterung des politischen Lebens, das nach Heine ein garstig Lied ist.
Die Emanzipation hat der Frau des weiteren die ökonomische Gleichheit mit dem Manne gebracht, indem sie das Recht besitzt, ihren eigenen Beruf, ihr Geschäft zu wählen. Doch da weder ihre vergangene noch gegenwärtige physische Erziehung sie mit der nötigen Stärke ausstattete, mit dem Manne konkurrieren zu können, wird sie sehr oft genötigt, ihre ganze Lebensenergie zu erschöpfen, jeden Nerv ihres Wesens anzustrengen, um nur wenigstens den durchschnittlichen Marktpreis erringen zu können.
Wenige sind erfolgreich, denn es ist eine Tatsache, dass Frauen-Ärzte, Advokaten, Architekten und Ingenieure weder das gleiche Vertrauen geniessen noch auch die gleiche Bezahlung empfangen wie ihre männlichen Genossen. Und diejenigen, welche schliesslich diese entzückende Gleichheit doch erringen, tun dies im Allgemeinen auf Kosten ihres physischen und psychischen Wohles. Was aber gar die grosse Masse von Arbeits-Mädchen und Frauen anbelangt, so frage ich nur, wie viel persönliche Unabhängigkeit wird gewonnen, wenn die Enge, der Mangel an Freiheit im Eltern- oder eigenen Heim um die Enge und den Mangel an Freiheit in der Fabrik, in der Schwitzbude, im Geschäftsladen oder Bureau vertauscht wird? Dazu kommt noch das für so viele Frauen in Betracht kommende Missgeschick, die Aufsicht über ein "Heim, o du süsses Heim" — kalt, monoton, ungeordnet abstossend — führen zu müssen, nachdem sie von der Tagesfrohn nach Hause zurückkehrten. Eine herrliche Unabhängigkeit!
Es ist natürlich gar kein Wunder, dass so viele Mädchen so schnell willens sind, das erste beste Heiratsangebot mit beiden Händen zu ergreifen, nur damit sie der ihnen zur Last gewordenen Unabhängigkeit hinter dem Ladenpult oder der Nähmaschine entkommen können. Solche Mädchen sind ganz ebenso begierig zu heiraten, wie es Mädchen aus den Kreisen der Mittelklasse sind, welche den Zeitpunkt kaum erwarten können, da es ihnen möglich sein wird, das Joch ihrer Abhängigkeit von den Eltern abzuwerfen. Eine sogenannte Unabhängigkeit, welche nur gestattet, die nötigsten Subsistenzmittel sich zu erwerben, ist keineswegs ein bezauberndes, ein so schönes Ideal, dass sie zu der Erwartung berechtigte, die Frau würde um ihretwillen alles opfern. Denn diese ganze hoch, weit und breit gepriesene Unabhängigkeit ist ja schliesslich nichts anderes als ein langsamer Prozess der Abstumpfung und Ertötung der weiblichen Natur, ihrer Liebestriebe und mütterlichen Gefühle.
Dennoch ist die Position einer Arbeiterin bedeutend natürlicher und menschlich befriedigender, als jene ihrer scheinbar glücklicheren Schwester in den geistigen Berufssphären des Lebens: der Lehrerinnen, Ärztinnen, Rechtsanwältinnen, u.s.w., welche den Schein der Würde, Zufriedenheit und des Selbstvertrauens anzunehmen haben, während ihr Innenleben immer leerer wird und stirbt.
Engherzigkeit in der üblichen Auffassung des Begriffes der Unabhängigkeit der Frau und ihrer Emanzipation; die Furcht vor der Liebe zu einem Manne, der ihr sozial nicht gleichgestellt ist; beständige Angst, dass die Liebe ihre Freiheit und Unabhängigkeit vernichten würde; das Entsetzen vor der Erkenntnis, dass die Liebe oder die Wonne der Mütterlichkeit sie in der Ausübung ihrer Berufstätigkeit behindern könne — all dies macht aus den Frauen Zwangs-Vestalinnen, vor welchen das Leben mit seinen grossen, klärenden Leiden, seinen tiefen, bezaubernden Freuden dahinrollt, ohne ihre Seele berührt zu haben.
Die Emanzipation, wie sie von der Majorität ihrer Anhänger verstanden wird, ist allzu enge und klein in ihren Zielen, um jene grenzenlose Freude und Ekstase zu gestatten, welche in den tiefen Gefühlen einer wahren Frau, Geliebten, Mutter im Zustande der Freiheit liegen. Das tragische Schicksal einer sich selbst erhaltenden und ökonomisch freien Frau liegt nicht in zu vielen, sondern in zu wenigen Erfahrungserlebnissen. Es ist wohl wahr, sie übertrifft die Generationen der Vergangenheit an weltlichen Kenntnissen und ungezwungenerem Auftreten, aber gerade deshalb fühlt sie desto empfindlicher den Mangel jedes Lebensinhaltes, welcher allein im Stande ist, die menschliche Gefühlswelt belebend zu bereichern und ohne welchen die meisten Frauen blosse professionelle Automaten werden.
Dass eine solche Sachlage kommen musste, wurde vorausgesehen von Jenen, welche begriffen, dass es im Reiche der Ethik noch viele verfallene Ruinen aus der Zeit unwidersprochener männlicher Oberherrschaft gäbe; Ruinen, die man noch ah nützlich betrachtet. Und da? Traurigste und Wichtigste dabei ist es, dass eine hübsche Anzahl sogenannter Emanzipierben tatsächlich unfähig ist ohne jene auszukommen. Jede Bewegung, welche als Ziel die Vernichtung bestehender Institutionen und ihre Substituirung durch solche, welche mehr im Einklänge mit dem Geiste des Fortschrittes stehen, besitzt, hat Anhänger, welche in der Theorie für die extremsten radikalen Ideen eintreten, in ihrer alltäglichen Praxis aber ganz dem nächsten besten Philister ähneln, wie dieser Anständigkeit vorspiegeln und nach der guten Meinung ihrer Gegner angeln.
Ganz derselbe Philister befindet sich auch im Lager der Frauenemanzipation. Sensationsjournalisten, Milch- und Wasserliteraten haben sich beeilt, das emanzipierte Weib in Bildern darzustellen, welche die Haare des ehrbaren Bürgers und seiner dummen Kumpane zu Berge stehen machen. Eine jede Teilnehmerin an der Frauenrechtbewegung wurde dargestellt als eine George Sand in all ihrer totalen Verachtung der Moral. Niohts war ihr heilig, die emanzipierte Frau besass in den Augen und Darstellungen jener pornographischen Schriftsteller keine Achtung vor den idealen Beziehungen zwischen Mann und Weib. Kurz, die Emanzipation war das Synonym für ein sorgloses Leben der Wollust und Sünde, unbekümmert um die Gesellschaft, Religion, Moral. Natürlich waren die Apostel der Frauenrechte ihrerseits höchst erbittert angesichts solcher Entstellungen; und — da sie des Humors ermangelten — strengten sie ihre ganze Energie dafür und darauf an zu beweisen, dass sie im Gegenteil gar nicht so schlecht wären, als sie geschildert wurden. Gewiss, solange als die Frau der Sklave des Mannes war, konnte sie nicht gut und tugendhaft sein; doch nun, da sie frei und unabhängig, würde sie schon zeigen, wie brav sie in ihrem Betragen sein könne, welch eine läuternde Wirkung ihr Einfluss auf alle Gesellschaftseinrichtungen haben müsse... Wirklich, es muss gesagt werden, die Frauenrechtebewegung hat viele alte Fesseln zerrissen, aber sie schmiedete auch neue.
Diese grosse Bewegung wahrer Emanzipation begegnete unglücklicher Weise keiner grossen Gattung von Frauen, kühn und konsequent genug, um der Freiheit ins Antlitz zu blicken. Ihre kleinlichen, puritanisch frömmelnden Visionen verbannten den Mann als Störenfried und zweifelhaften Charakter aus der Tiefe ihres Gemütslebens. Der Mann als Geschlechtswesen durfte nicht geduldet werden, höchstens als Vater eines Kindes, da es schlechterdings nicht angeht einem Kinde das Leben zu schenken, ohne vorher einen Mann gehabt zu haben. Ein Glück war und ist es, dass selbst der strengste Puritanismus niemals stark genug sein wird, um das eingewurzelte Gefühl der Mutterschaft zu ertöten. Aber die Freiheit der Frau ist intim verbunden mit der Freiheit des Mannes, und viele meiner so zu sagen emanzipierten Schwestern scheinen es gänzlich zu vergessen, dass ein Kind, geboren in Freiheit, der Liebe, Zuneigung und Widmung eines jeden menschlichen Wesens bedarf, sowohl des Mannes als der Frau. Leider herrscht aber in dieser Beziehung die entgegengesetzte, kleingeistige Meinung vor, und sie ist es, welche die grosse Tragödie im Leben des modernen Mannes und Weibes verursacht.
Vor ungefähr fünfzehn Jahren erschien aus der Feder der brillianten norwegischen Schriftstellerin Laura Marholm ein Werk, das sich "Die Frau; eine Charakterstudie" betitelte. Sie war eine der ersten, welche die allgemeine Aufmersamkeit auf die Leere und Enge der vorherrschenden Emanzipationsauffassung, auf ihre tragischen Wirkungen auf das Innenleben des Weibes zu konzentrieren versuchte. Ihre Arbeit erzählt uns das Schicksal diverser ausgezeichnet begabter Frauen von internationaler Berühmtheit: des Genies Eleonore Duse, der grossen Mathematikerin und Schriftstellerin Sonja Kowalewskaja, der grossen Künstlerin und poetischen Natur Mario Baschkirzeff, welche so jung starb. Und durch eine jede Beschreibung des Lebens dieser Frauen, begabt mit aussergewöhnlicher Mentalität, läuft die klar sichtbare Furche einer unbefriedigten Sehnsucht nach einem ganzen, abgerundeten, vollständigen, schönen Leben, die Unruhe und Einsamkeit, welche dem Mangel eines solchen entspringt. Diese meisterhaft ausgeführten psychologischen Skizzierungen können nicht umhin zu zeigen, dass, je höher die geistige Entwickelung einer Frau gestiegen ist, es desto seltener möglich für sie ist, einem kongenialen Kameraden zu begegnen, der in ihr nicht nur das "Geschlechtstierchen," sondern auch das menschliche Wesen, den Freund, die starke Individualität erblickt, die auch keinen einzigen Zug ihres Charakters verlieren soll noch darf.
Der Durchschnittsmensch mit seiner Selbstgefälligkeit, seiner lächerlichen Überhebung und wohlwollenden Patronage dem weiblichen Geschlecht gegenüber, ist eine Unmöglichkeit für die Frau, wie sie uns Laura Marholm in ihren Studien vorführt. Aber ganz ebenso unmöglich ist für sie derjenige Mannescharakter, der in ihr nichts anderes erblickt und findet, als ihren Geist, ihre Intelligenz, ihre Genialität, der es unterlässt, in ihr die Natur des Weibes zu erwecken. Reiche Intelligenz, ein feines Gefühl, dies sind die Eigenschaften welche gemeinhin als unentbehrlich angenommen werden für eine schöne und gehaltvolle Persönlichkeit. Im Falle der modernen Frau dienen diese Eigenschaften jedoch als ein Hindernis für die freie Behauptung ihres Wesens. Schon vor über hundert Jahren wurde die alte Form der Ehe, begründet auf der "heiligen Schrift" — nur der Tod dürfe beide Gatten trennen — als eine Institution verurteilt, welche für die Oberherrschaft des Mannes über die Frau, ihrer vollständigen Unterwerfung seinen Launen und Befehlen gegenüber, für ihre Abhängigkeit von seinem Namen und seiner Unterstützung eintritt.
Immer wieder wurde der Beweis geführt, dass die alten Eheformen für die Frau gleichbedeutend sind mit der Position einer Dienstmagd für den Mann und einer Gebärerin seiner Kinder. Dennoch finden wir viele emanzipierte Frauen, welche die Ehe mit all ihren augenscheinlichen Unzulänglichkeiten der bedrückenden Enge der unverheirateten Existenz vorziehen; enge und unerträglich eben darum, weil die Fesseln der Moral und des sozialen Vorurteils sie einschüchtern, ihre Natur umklammert und gebunden halten.
Die Ursache einer solchen Inkonsequenz seitens vieler fortgeschritten gesinnter Frauen ist in dem Umstände zu erblicken, dass sie niemals die wahre Bedeutung des Begriffes der Emanzipation der Frau verstanden. Sie dachten, dass alles, was ihnen fehlte, sei die Unabhängigkeit von äusserlichen Tyranneien. Sie vergassen die innerlichen Tyrannen; diese, die sich uns darbieten in der Form von ethischen und gesellschaftlichen konventionellen Lügen, die weit gefährlicher, zerstörender für das Leben sind, als die Tyrannen der Aussenwelt — diese internen Tyrannen überliess man sich selbst. Sie haben auch tatsächlich wohl Acht auf sich gegeben; sie scheinen sich ganz kannibalisch wohl zu fühlen in den Köpfen und Herzen der aktivsten Apostel der Frauenbewegung, ganz ebenso, wie sie sich wohl fühlten in den Köpfen und Herzen unserer Grossmütter.
Diese internen, innerlichen Tyrannen bestehen in der Furcht vor der öffentlichen Meinung oder in Rücksichten auf Personen und Institutionen; diese Moralwächter, Gefangenenhüter des menschlichen Geistes, veranlassen in ihrem Opfer die beständige bange Frage: "Was werden die Leute dazu sagen?" Und nicht eher als bis die Frau gelernt hat, ihnen zu begegnen, stark und unbezwingbar ihren Standpunkt zu vertreten, auf ihre eigene unbeschränkte Freiheit im Handeln und in der Auslese zu bestehen, der Stimme der Natur — mag dieselbe nach den grossen Köstlichkeiten des Lebens, der Liebe zum Manne, oder nach ihrem erhabensten Privilegium, einem Kinde das Leben schenken zu können, rufen — zu lauschen: — nicht eher darf sie sich als emanzipiert betrachten. Wie viele emanzipierte Frauen sind tapfer genug, es einzugestehen, dass die Stimme der Liebe machtvoll in ihren Busen erklingt, gebieterisch nach Befriedigung heischend?
Der französische Schriftsteller Jean Reibrach versucht in einem seiner Romane, betitelt "Die neue Schönheit", sein Ideal einer schönen, emanzipierten Frau darzustellen. Das Ideal zeigt sich uns in Gestalt eines jungen Mädchens, einer Ärztin. Sie spricht klar und vernünftig darüber, wie kleine Kinder zu ernähren sind, sie ist gütig und verteilt Medikamente gratis an arme Mütter. Wir nehmen an einer Unterhaltung zwischen ihr und einem ihrer Bekannten, einem jungen Mann, teil und hören viel über die sanitären Verhältnisse der Zukunft, in welcher Weise Bazillen und sonstige schädliche Keime durch die bauliche Anwendung von Stein-Wänden und Fussböden, durch die Beseitigung von Teppichen und Vorhängen vertilgt werden sollen. Natürlich ist die Ärztin sehr einfach und praktisch gekleidet, vornehmlich in Schwarz. Der junge Mann, auf den die Dame bei ihrem ersten Zusammentreffen dank ihrer übergrossen Weisheit einen abstossenden Eindruck ausübte, lernt bald, sie zu verstehen, und eines schönen Tages entdeckt er seine Liebe für sie. Beide sind jung, sie ist gütig, schön und obwohl stets in etwas strengem Aufzug, wird ihre Erscheinung sehr gemildert durch den tadellosen Kragen und die zierlichen Manschetten. Man würde nun glauben, dass er ihr seine Liebe erklären würde; aber er gehört nicht zu Jenen, welche sich in romantische Absurditäten einlassen. Poesie und Liebesenthusiasmus bedecken ihre errötenden Antlitze und verhüllen sich vor den Schönheiten der korrekten Dame. Auch er stillt die Stimme seiner Natur, verbleibt immer würdevoll, korrekt. Ganz wie sie: pünktlich, immer gemessen, anständig. Ich muss in der Tat befürchten, dass, wenn beide sich vereinigt hätten, der junge Mann Gefahr gelaufen wäre, zu Tode zu frieren; ich muss gestehen, dass ich nichts Schönes in dieser neuen Schönheit, die so kalt ist wie die Stein-Wände und Fussböden, von denen sie träumt, zu entdecken vermag. Lieber sind mir die Liebeslieder des romantischen Zeitalters, lieber Don Juan und Venus, lieber eine Flucht mittels Leiter und Stricke in einer mondhellen Nacht, verfolgt von den Flüchen des Vaters, den Klagen der Mutter, den moralischen Kommentaren der lieben Nachbaren, als diese ganze Korrektheit und mit Ellen gemessene Wohlanständigkeit. Wenn die Liebe nicht weiss, wie zu geben und zu nehmen, ohne irgend welche Einschränkung, dann ist sie nicht Liebe, sondern eine Geschäftstransaktion, die niemals alle geschäftlichen Additionen und Substraktionen aus dem Auge verliert.
Das grösste Hemmnis in der Emanzipation der Frau der Gegenwart, liegt in ihrer künstlichen Steife, ihrer kleinlichen Anstandsmache, welche eine Leere im Frauengemüt erzeugen, die ihr den Trank vom Baum des Lebens verwehren. Die Erlösung von diesem Übel liegt in einem mutigen Anmarsch, einer helleren, klareren Zukunft entgegen! Wir bedürfen des ungehemmtens Erwachens aus allen alten Traditionen und Gewohnheiten. Nur einen einzigen Schritt nach dieser Richtung hat die Bewegung der Frauenemanzipation getan; man darf hoffen, dass sie die Kraft zu einem weiteren besitzen wird. Das Stimmrecht, gleiche bürgerliche Rechte — all dies sind sehr schöne Dinge, doch die wahre Emanzipation beginnt weder bei der Urne noch in den Gerichtssälen (*). Sie fängt in der Seele der Frau an.
Die Geschichte lehrt, dass jede unterdrückte Klasse ihre wahre Befreiung von den Herrschern durch eigene Anstrengungen zu erkämpfen hatte. Sehr notwendig ist es für die Frau- diese Aufgabe zu begreifen, zu erkennen, dass ihre Freiheit genau so weit reichen wird als ihre Macht, sich selbst die Freiheit zu erringen, reicht. Daher ist es für sie am weitaus wichtigsten mit ihrer innerlichen Regeneration anzufangen, sich loszumachen von der drückenden Last der Vorurteile, Traditionen und Gebräuche. Der Wunsch nach den verschiedenen gleichen Rechten mit denen des Mannes in jeder Beschäftigung des Lebens ist gerecht und richtig, doch vergessen wir nie, dass schliesslich das höchste Lebensrecht dasjenige der Liebe und des Geliebtwerdens ist. Wahrlich, wenn unsere Teilemanzipation jemals eine vollständige und wahre Emanzipation werden soll, dann wird sie vor allem die lächerliche Annahme zu verdrängen haben, dass geliebt zu werden, Geliebte und Mutter zu sein, gleichbedeutend mit Sklavin oder Untergeordnete zu sein ist. Die absurde Annahme der Rechte beider Geschlechter, auch die Anschauung, dass Mann und Weib zwei verschiedenartige Welten vertreten, müssen verdrängt werden.
Kleinlichkeit trennt, Weite des Horizontes vereinigt. Wir wollen freimütig, grossmütig werden. Wir wollen vitale Angelegenheiten nicht übersehen, vielleicht deshalb, weil eine Masse von Kleinigkeiten und Trivialitäten sich vor uns auftürmt. Die wahre, edle Auffassung der Beziehungen zwischen den Geschlechtern gestattet keine Sieger oder Besiegte. Sie erkennt bloss eine Sache an: sich grenzenlos zu geben, um sich wieder zu finden — reicher, edler, besser. Nur dies kann die gähnende Leere im Leben der Frau ausfüllen, kann die Tragödie der Frauenemanzipation verwandeln in Freude, grenzenlose Freude.
Anmerkung:
*) Zu dieser trefflichen Bemerkung unserer Genossin sei noch hinzugefügt, dass die Erlangung "gleicher bürgerlicher Rechte" wie die Frauenrechtbewegung nach ihnen strebt, keineswegs identisch mit dem wahren Ideal politischer und ökonomischer Gleichheit, noch etwa im Sinne des Fortschrittes erstrebenswert ist. Der Begriff "bürgerliches Recht" ist die Konstatierung der Ungleichheit des freien Menschen dem Staate der Bourgeoisie gegenüber. Der Bürger ist stets Untertan, der freie Mensch ist keinem untertänig.
Darum ist es auch im Sinne der fortschrittlichen Evolution wünschenswert, sich ausserhalb der "bürgerlichen Rechte" zu begeben, auf das Stimmrecht, das doch eigentlich nie etwas anderes ist, als die plebiscive Gewährung des Wunschesausdruckes seitens der bestehenden Macht, auf staatlich, gewährleistete Rechte zu verzichten. Diese Verzichtleistung bedeutet die Reklamierung individueller Freiheit, diese Verachtung allen staatsbürgerlich gewährleisteten Rechten und Freiheiten gegenüber, sie erst macht wirklich frei.
Als Bürgerin wird die Frau immer Sklavin der vom Staate, den massgeblichen Urteilen, etc gestützten Autoritäten des bourgeoisen Lebens sein; als Frau, welche die Gebote der konventionellen Moral, des Staates und jeder Autorität verachtet, gehorchend einzig und allein der klaren Erkenntnis ihrer Vernunft, den Impulsen ihrer Natur, wird sie ein freies Weib sein und werden.
P. R. (Pierre Ramus)
Aus: "Die Freie Generation. Dokumente der Weltanschauung des Anarchismus", 1. Jahrgang, Nr. 1, Juli 1906. Digitalisiert von der Anarchistischen Bibliothek und Archiv Wien. Nachbearbeitet (Scanungenauigkeiten entfernt, ae zu ä, That zu Tat usw.) von www.anarchismus.at.