Rudolf Rocker - Nachbarn der Anarchisten (1927)
Die Frage, die wir in unserem vorigen Artikel aufrollten, ist eng verbunden mit einer anderen, die von der größten Bedeutung für die Zukunft der sozialistischen Bewegung ist. Durch das Monopol der Erziehung und die immer mehr zutage tretende Teilung zwischen geistiger und manueller Arbeit, sind die Arbeiter allein immer weniger imstande, das ganze Gebiet der technischen und organisatorischen Zusammenhänge in irgendeinem Produktionszweig zu übersehen. Der moderne Großbetrieb und die Großindustrie im allgemeinen haben ganz neue Probleme aufgerollt und stellen vor allem viel größere Forderungen an die Verwaltungsfähigkeit als der Arbeitsprozeß vergangener Zeiten. Aus diesem Grunde spielen die sogenannten geistigen Arbeiter im modernen Produktionsprozeß, die Techniker, Ingenieure, Chemiker und wissenschaftlich geschulten Angestellten etc. eine ganz bedeutende Rolle, die man ja nicht unterschätzen oder ignorieren darf.
Man tröste sich nicht mit dem Gedanken, daß diese scharfe Abgrenzung zwischen geistiger und manueller Arbeit mit ihren unzähligen Abteilungen und Unterabteilungen nicht immer bleiben werde, und daß unbedingt ein Zustand kommen werde, wie ihn Kropotkin in seinem lichtvollen Werke "Felder, Fabriken, Werkstätten" vorausgesehen hat. Auch wir sind von einer solchen Entwicklung überzeugt; aber vorläufig müssen wir die Dinge nehmen, wie sie sind und nicht, wie sie uns vorschweben. Daher müssen wir begreifen, daß die Reorganisation des gesellschaftlichen Lebens im Sinne des Sozialismus von den Arbeitern allein nicht abhängig ist, sondern daß auch die sogenannten geistigen Arbeiter berufen sind, in diesem Erneuerungsprozeß eine wichtige, notwendige Rolle zu spielen. Trifft dies aber zu, dann müssen wir uns die größte Mühe geben, soviel Menschen als immer möglich aus jenem Lager auf unsre Seite zu bringen, und wir sind der Meinung, daß gerade die Anarchisten geeignet sind, sich dieser Aufgabe mit Erfolg zu unterziehen.
Ohne Zweifel ist die große Mehrzahl der geistigen Arbeiter heute noch völlig unter dem Bann der kapitalistischen Vorstellungen. Wirtschaftliche Abhängigkeit, gesellschaftliche Vorurteile, Standesdünkel usw., spielen in ihren Reihen noch eine große Rolle. Trotzdem wäre es vollständig verfehlt, ihnen auf Grund ihrer sogenannten Klassenlage voreilig jede Fähigkeit für eine bessere Erkenntnis der Dinge absprechen zu wollen oder gar gehässiges Mißtrauen gegen die sogenannten Intellektuellen zu entfachen, wie es häufig geschah, und wie es in Sowjetrußland folgerichtig zu ihrer Degradierung zu Bürgern zweiter Klasse geführt hat. Mit welchem Erfolg, haben wir gesehen. Tatsache ist, daß z.B. in Deutschland nach der Revolution eine große Anzahl geistiger Arbeiter aller Gebiete aus ihrer Reserve heraustraten und an revolutionäre und sozialistische Kreise Anschluß suchten. Besonders war dies bei der Lehrerschaft der Fall. Leider ist die fanatische Gehässigkeit zwischen den verschiedenen Richtungen des Sozialismus, die wir gegenwärtig fast überall beobachten, nicht gerade ein Faktor, welcher jenen Elementen den Sozialismus und die sozialistische Bewegung besonders anziehend machen könnte. Aber die persönliche Erfahrung hat immer wieder bestätigt, daß ein Sozialismus mit wahrhaft freiheitlichen Bestrebungen, dessen moralischer Einfluß auch in der ganzen geistigen Einstellung seiner Träger zutage tritt, gerade hier glänzende Erfolge haben könnte.
Ich hatte während meiner Gefangenschaft in der Zeit des Krieges Gelegenheit, mit Technikern, Ingenieuren, Chemikern, Pädagogen und Männern der Kunst und Wissenschaft auf allen Gebieten täglich in Berührung zu kommen, und ich habe fast überall Verständis für unsere Ideen gefunden. Sogar Menschen, die vorher die denkbar schlimmsten Vorstellungen von uns hatten, die ihnen durch die bürgerliche Zeitungsliteratur suggeriert wurden, verloren allmählich ihre abweisende Haltung und zeigten zuletzt großes Interesse für unsere Bestrebungen. Ich verbreitete unter diesem Element eine erhebliche Anzahl anarchistischer Bücher und Broschüren und machte dabei die Erfahrung, daß besonders Kropotkins "Gegenseitige Hilfe", "Felder, Fabriken und Werkstätten", Bakunins "Gott und der Staat" und Landauers "Aufruf zum Sozialismus" Anklang fanden. Als ich später nicht mehr imstande war, genügend Literatur heranzuschaffen, da die Vorräte unserer Genossen draußen erschöpft waren und während des Krieges schwer ergänzt werden konnten, gründeten wir eine Bibliothek, die gerade von den Intellektuellen fleißig benutzt wurde. Einige traten sogar mit der Bitte an mich heran, ihnen eine Liste guter Werke zusammenzustellen, die in unsre Ideen einführen, damit sie sie nach ihrer Befreiung benutzen könnten.
Ich hatte das Vergnügen, zu sehen, daß Dutzende dieser Leute sich die Liste abschrieben. Besonders erinnere ich mich eines Vorfalls, wo ein höherer Bergbauingenieur, der vor dem Kriege im Ruhrgebiet eine sehr verantwortungsvolle Stellung bekleidete, mir nach längeren, Tage währenden Auseinandersetzungen erklärte, daß, wenn je einmal die Stunde kommen sollte, wo er seine Kenntnisse einem solchen Versuche zur Verfügung stellen könnte, er dazu mit Freuden bereit sei. Er ging später nach Rußland, um beim Aufbau zu helfen, ein Beweis dafür, daß es ihm ernst war, trotzdem er sich vor seiner Gefangenschaft nie mit dem Sozialismus beschäftigt hatte. Allerdings kehrte er schwer enttäuscht nach Deutschland zurück. Als ich ihn später wieder sprach, erklärte er mir, daß er nach allen praktischen Erfahrungen, die er gemacht hatte, von der Vorzüglichkeit der genossenschaftlichen Produktion überzeugt sei, daß dieselbe sich aber nur in einer Gesellschaft entwickeln könne, wo man die Freiheit und Menschenwürde des einzelnen respektiere. Diese Elemente sind unsrer Auffassung nach für die konstruktive und schöpferische Wirksamkeit des Sozialismus unentbehrlich, und in je größerer Zahl sie uns am Tage einer gesellschaftlichen Umwälzung zur Verfügung stehen, desto größer wird unsere Aussicht auf Erfolg sein.
Die Ansicht, daß die Revolution schon alles von selbst bringen werde und man sich nur auf die Initiative und das spontane Handeln der Massen zu verlassen brauche, imponiert mir nicht mehr nach allen bitteren Erfahrungen. Die wachsende Macht der staatlichen Bevormundung, einseitige Erziehung, Parteidisziplin und hundert andere Dinge haben ihr möglichstes getan, die Initiative der Massen zu ersticken und eine konservative Einstellung des Geistes zu entwickeln. Deshalb ist es ratsam, mit mehr Bedacht und Planmäßigkeit an die Dinge heranzutreten, wenn wir unangenehme Überraschungen und bittere Enttäuschungen vermeiden wollen. Wir müssen schon heute, im Schoße der alten Gesellschaft, die Elemente zu entwickeln suchen, die für Aufbau und Erneuerung der Gesellschaft notwendig sind. Je besser vorbereitet, umso leichter wird die Neugeburt von statten gehen, um so weniger Hindernisse werden uns zu überwinden bleiben. Dieser Wunderglaube an die Allmacht der Revolution, die allein alles vollbringen und das Paradies auf Erden einrichten werde, unterscheidet sich in nichts von jedem anderen Wunderglauben. Dazu entspringt er, wie jeder Wunderglaube, einer durchaus autoritären Einstellung, die immer das Heil von einer äußeren Macht und nie von der eigenen Kraft erwartet.
Die Revolution ist sozusagen nur der Geburtsakt, der den neuen Ideen, Hoffnungen und Bestrebungen die Möglichkeit gibt, die Hülle des alten Organismus zu sprengen und sich in selbständigen Handlungen auszuwirken. Aber das neue Wesen, das in den Monaten der Schwangerschaft im alten Organismus sein verborgenes Dasein führte, tritt nicht mit allen Vollkommenheiten ins Leben, sondern muß sich erst langsam vorwärts tasten. Die Revolution befreit es zwar und gibt ihm selbständiges Dasein, aber nun muß es erst Geist und Glieder zu gebrauchen lernen und sich seiner Kräfte inne werden. Deshalb kann der erste Zustand unmittelbar nach dem Ausbruch der Revolution nicht gleich jedem Wunsche entsprechen, den wir im Stillen hegten. Aber wir müssen mit allen Kräften darauf hinwirken, daß das Neue nicht zum Krüppel wird und seine Kräfte und Fähigkeiten nicht vorzeitig gebrochen werden in der engen Schablone autoritärer Begriffe und Überlieferungen. Wir müssen Sorge tragen, daß sich die Entwicklung des neuen Zustandes in der Richtung zur Freiheit und sozialen Gerechtigkeit bewegt, wovon eine neue geistige Einstellung der Menschen abhängt, die ihrerseits die hemmungslose Auswirkung des neuen Entwicklungszustandes verbürgt.
Sind wir davon überzeugt, so müssen wir schon heute versuchen, mit allen gesellschaftlichen Kräften enge Fühlung zu nehmen, die außerhalb der Einflußsphäre des Staates wirken und in dessen Institutionen nicht Fuß zu fassen suchen, sondern jeden Fortschritt auf dem Gebiete des gesellschaftlichen und privaten Lebens von der eigenen Initiative der Menschen erwarten. Es ist gar nicht notwendig, daß alle diese Vereinigungen und Bewegungen ausgesprochen anarchistisch seien; es genügt, wenn sie sich der Freiheit zu bewegen und besondere Etappen auf diesem Wege vorstellen. Hierzu gehören in erster Linie Bewegungen wie der Syndikalismus, das Genossenschaftswesen, die Freiland Frei-Geldbewegung, der Gildensozialismus, antimilitaristische Organisationen der verschiedensten Richtungen, Körperschaften zur Pflege der freien Erziehung und hundert andere Organisationsgebilde, die unseren Gedankengängen mehr oder weniger nahe stehen.
Nicht daß wir unsere eignen Organisationen auflösen und in jenen Körperschaften aufgehen sollten! Nein, ebensowenig, wie wir das von anderen erwarten. Aber wir sollten überall freundliche Verbindungen mit jenen herstellen, die zu gemeinschaftlichen Aktionen auf diesem oder jenem Gebiete führen können und dadurch ein immer engeres Bündnis und besseres gegenseitiges Verständnis erwecken müssen. Dadurch würde nicht bloß das Feld unserer Betätigung bedeutend erweitert, auch das Gefühl der Stärke würde in den angeschlossenen Körperschaften vertieft werden und das lähmende Empfinden des Isoliertseins verbannen. Diese Isoliertheit, in die wir immer tiefer hineingeraten sind, ist keineswegs die Folge unserer vorgeschrittenen Anschauungen, sondern in den meisten Fällen nur das Ergebnis doktrinärer Einstellung und geistiger Inzucht, die nie zu einem günstigen Resultat führen können. Wir müssen uns daran gewöhnen, daß es eine ganze Anzahl vorgeschrittener Menschen gibt, die zwar unsere Ansichten nicht in jeder Hinsicht teilen, die sich aber gern auf besondere Punkte unserer Ideen werfen und für deren Verbreitung oder praktische Durchführung eigene Organisationen ins Leben rufen. In Amerika ist das oft geschehen; ich erinnere nur an die Vereinigungen zur Wahrung der sexuellen Freiheit, die Gründung freier Schulen etc. Es wäre Torheit, solche Menschen oder Bewegungen deshalb zu ignorieren oder gar zu bekämpfen, weil sie sich noch nicht zum vollständigen Anarchismus durchgerungen haben. Im Gegenteil, hier heißt es mit gutem Beispiel vorangehen und die größtmögliche Toleranz walten lassen, die allein imstande ist, für unsere Ideen zu werben. Jeder trockene und einseitige Doktrinarismus kann hier bloß abstoßend wirken und trübt das Verständnis für unsere Ideen.
Aus: Fanal, 2. Jahrgang, Nr. 3, Dezember 1927. Digitalisiert von www.anarchismus.at anhand eines PDF der Anarchistischen Bibliothek und Archiv Wien (bearbeitet, Oe zu Ö usw.)