Rudolf Rocker - Anarchistische Arbeit im kapitalistischen Staate (1928)

Lange Jahre vor dem Kriege behandelte Kropotkin einmal ziemlich eingehend im Londoner "Freedom" die drei großen Bewegungen der englischen Arbeiterschaft: die Gewerkschaften, die Genossenschaften und den sogenannten Munizipalsozialismus und kam zu dem Schluß, daß in dem Augenblick, wo es einmal gelingen würde, diese drei Bewegungen zu einem synthetischen Ganzen zusammenzufassen, die Grundlage für eine sozialistische Gesellschaft geschaffen sei. Und in einem anderen Aufsatz, "Why not a cooperative City?" (Weshalb keine genossenschaftliche Stadt?), der in einer Periode allgemeiner Arbeitslosigkeit geschrieben wurde, regte Kropotkin die Frage an, ob durch ein gemeinschaftliches Zusammenwirken der Gewerkschaften mit den genossenschaftlichen Organisationen nicht der Versuch unternommen werden könnte, eine kooperative Stadt mit allen Grundlagen für ihre zukünftige Existenz zu errichten. Kropotkin erkannte also schon damals klar die Notwendigkeit einer konstruktiven und schöpferischen Betätigung innerhalb der Arbeiterbewegung, indem er sich sagte, daß für die Verwirklichung des Sozialismus etwas mehr von Nöten sei, als eine reine Abwehrbewegung gegen die Übergriffe des Kapitalismus oder eine reine Propagandabewegung, um die Massen für sozialistische Ideengänge vorzubereiten.

Heute begreifen wir immer klarer die Notwendigkeit konstruktiver Ideen und Versuche für die weitere Fortentwicklung des Sozialismus. Der trostlose Zustand innerhalb der sozialistischen Bewegung, ihr vollständiges Aufgehen in der Politik des bürgerlichen Staates einerseits und ihre dogmatische Verknöcherung in den starren Formen lebloser Begriffe andererseits, die sich auch in unserer Bewegung deutlich wahrnehmbar macht, ist zum großen Teil auf rein negative Ideengänge und Mangel an schöpferischer Betätigung zurückzuführen. Schon aus diesem Grunde ist eine intensivere Tätigkeit von unserer Seite auf den verschiedensten bereits erwähnten Gebieten dringend nötig und besonders eine engere Fühlung mit den verschiedenen Richtungen, die das Heil der menschlichen Entwicklung in selbständiger Initiative und konstruktiver Betätigung erblicken.

Ungeachtet aller Mißerfolge des alten Experimentalsozialismus, glaube ich bestimmt, daß wir einer neuen Phase konstruktiver Versuche innerhalb der sozialistischen Bewegung entgegengehen. Die Mißerfolge des sogenannten Experimentalsozialismus lassen sich zum großen Teil auf die autoritäre Einstellung seiner Systeme und hauptsächlich darauf zurückführen, daß seine Experimente nie mit einer größeren Bewegung der Massen in Verbindung standen und aus diesem Grunde ganz und gar auf sich selbst angewiesen waren und meistens der richtigen Proportionen ermangelten. Die Versuche des sogenannten Gildensozialismus, der eigentlich die Idee der produzierenden Gewerkschaft in sich verkörpert, und viele andere Erscheinungen in den verschiedensten Ländern sind unsrer Meinung nach die ersten Symptome einer neuen Entwicklungsphase, die leider durch den Krieg und seine furchtbaren Folgen frühzeitig gestört, aber keineswegs vernichtet wurden. Das vollständige Versagen des Staatssozialismus in Rußland und Mitteleuropa, der unwürdige Kampf zwischen dem radikalen und gemäßigten Marxismus in allen Ländern, ein Streit, der schon einen pathologischen Charakter angenommen hat, und viele andere Erfahrungen werden auch weiterhin dazu beitragen, daß viele aufrichtige Elemente aus den verschiedenen Lagern, denen der Sozialismus mehr als ein gewöhnliches Lippenbekenntnis ist, sich immer mehr davon überzeugen werden, daß der Sozialismus in dem engen Rahmen der Partei, in der Zwangsjacke der Diktatur noch unter der geistigen Impotenz einer degenerierten Demokratie nimmer gedeihen kann. All diese Kräfte werden früher oder später nach neuen Ausblicken und neuer Betätigung Umschau halten, und da wäre es gut, wenn wir bereits praktische Fingerzeige geben und auf neue Formen hinweisen könnten, die anziehend und lebensfähig genug erscheinen, um neue und strebsame Elemente aufzunehmen und ihnen eine entsprechende Betätigung zu gestatten. Doktrinärer Formelkram wird heute keinen Hund mehr hinter dem Ofen hervorlocken und ist auch ganz außer Stande, jene geistige Atmosphäre zu schaffen, die für Menschen mit freiheitlichem Empfinden und sozialem Gerechtigkeitsgefühl so notwendig ist, wie für den Vogel die Luft.

Wenn unsere Genossen überall versuchten, den unfruchtbaren Doktrinarismus zu überwinden, der nur erstarrend und geisteslähmend auf die ganze Bewegung wirkt, wenn sie versuchten, freundschaftliche und solidarische Beziehungen mit allen mehr oder weniger verwandten Richtungen anzuknüpfen, so könnte dies für die neue Phase des Sozialismus, der wir sicher entgegengehen, und die, ohne Zweifel, einen fruchtbareren und mehr konstruktiven Charakter annehmen wird, von ganz hervorragender Bedeutung werden. Je tiefer all diese Richtungen von den Ideen der Freiheit und der Solidarität durchdrungen werden, umso erfolgreicher werden sie sein, umsomehr werden sie dazu beitragen, den Boden für die kommende soziale Umwälzung zu befruchten und geistig vorzubereiten.

Doch es handelt sich nicht allein um Vorbereitungen für die Zukunft, es handelt sich auch um den Kampf der Gegenwart und die Verteidigung alter Errungenschaften, welche von der internationalen Reaktion überall bedroht werden und in einer ganzen Anzahl Länder bereits vernichtet sind. Die nationalistische Reaktion in der Form des modernen Faschismus entwickelt sich überall in beunruhigender Weise und droht die letzten Reste geistiger Unabhängigkeit und relativer Bewegungsfreiheit über den Haufen zu werfen. Auch hier wäre ein Zusammengehen mit allen Richtungen, welche diese gesellschaftliche und kulturelle Gefahr erkannt haben, von der größten Wichtigkeit, welche Endziele sie immer verfolgen mögen. Es gilt der nationalistischen Reaktion, dieser brutalsten und schnödesten Form der autoritären Ideologie, jeden Fußbreit Boden streitig zu machen und die Gefühle elementarster Menschenwürde hochzuhalten.

Leider aber haben viele aus unseren eigenen Reihen es fast verlernt, zu den brennendsten Fragen des täglichen Lebens Stellung zu nehmen. Man begnügt sich damit, in allen Dingen natürliche Ergebnisse des kapitalistischen Wirtschaftssystems und der staatlichen Tyrannei zu erblicken, betont immer wieder, daß all diese Erscheinungen erst zusammen mit dem ganzen gegenwärtigen System verschwinden werden und glaubt im übrigen seine Pflicht erfüllt zu haben, wenn man mit einigen platonischen Phrasen seinem Haß gegen Staat und Kapitalismus Ausdruck gibt.
 
Ich weiß sehr gut, daß es glücklicherweise in manchen Ländern noch Anarchisten gibt, die stets bereit sind, in kritischen Momenten zusammen mit anderen in Aktion zu treten. Aber es gibt auch Länder, wo fast die ganze Bewegung auf einen solchen verhängnisvollen Doktrinarismus eingestellt ist. Im Kampfe gegen den Reformismus haben sich viele von uns daran gewöhnt, in jeder politischen, sozialen oder wirtschaftlichen Reform eine Gefahr für das Endziel der Bewegung zu erblicken. Allein diese für den revolutionären Kampf so gefährliche Ansicht entspringt einer ganz falschen Voraussetzung, die mit dem Anarchismus überhaupt nichts zu tun hat. Gewiß sind wir ausgesprochene Gegner jener Richtungen in der Arbeiterbewegung, die da glauben, daß wir durch fortgesetzte Verbesserungen auf allen Gebieten langsam in die Gesellschaft der Zukunft hineinwachsen. Diese Anschauung, in ein System gebracht, nennen wir Reformismus. Je tiefer dieser Wunderglaube in der Arbeiterschaft Wurzel faßte, desto schneller ist die Arbeiterbewegung in den heutigen Staat hineingewachsen und ein notwendiges Zubehör desselben geworden.

Diesen verderblichen Wunderglauben zu bekämpfen, heißt aber noch lange nicht, ein prinzipieller Feind aller Verbesserungen innerhalb der heutigen Gesellschaft zu sein. Jede Verbesserung, welche das Gefühl der menschlichen Würde vertieft, den Sinn der Solidarität stärkt oder die materiellen Bedingungen, wenn auch nur vorübergehend besser gestaltet, ist auch für uns Anarchisten eine Errungenschaft, die nicht von der Hand zu weisen ist. Auch wir leben schließlich in der heutigen Gesellschaft und nicht in den Wolken, so daß wir uns nicht den Luxus gestatten können, an den praktischen Erscheinungen des Lebens gleichgültig vorüberzugehen. Es ist auch für uns ein Unterschied, ob wir der brutalen Gewalt einer faschistischen oder bolschewistischen Diktatur auf Schritt und Tritt unterworfen sind, die jede Menschlichkeit mit Füßen tritt und jedes Minimum von Freiheit restlos erstickt, oder ob wir uns einer gewissen Geistes- und Bewegungsfreiheit erfreuen können, die uns ein öffentliches Eintreten und die Propaganda für unsre Ideen gestattet. Auch für uns ist es wünschenswert, unsre Arbeitszeit zu beschränken, unter besseren Bedingungen zu arbeiten und auch im Betrieb unsre Menschenwürde respektiert zu sehen, anstatt überall als Helot behandelt zu werden, dem man überhaupt jedes menschliche Empfinden abspricht.

Wohl wissen wir, daß der Staat in all seinen verschiedenen Formen stets der Verteidiger des Privilegiums und der gesellschaftlichen Ungerechtigkeit ist, daß dieses in seinem inneren Wesen begründet ist. Aber wir wissen auch, daß ein Staat sich niemals freiwillig dazu bequemte, einem Volke gewisse Rechte und Freiheiten zu verleihen, sondern daß er stets dazu gezwungen werden mußte durch Massenbewegungen im Volke und oft durch eine ganze Reihe von Revolutionen. Nicht weil den Regierungen diese Rechte genehm waren, sondern weil sie durch den Druck von außen von revoltierenden Völkern vor vollendete Tatsachen gestellt wurden, war man wohl oder übel dazu gezwungen, diese Freiheiten zu gewähren. Aber wenn diese Rechte sogar schon in der sogenannten Konstitution verankert und durch die Gesetze des Staates gewährleistet sind, ist das noch lange keine Garantie für ihren Bestand, wie uns die Gegenwart in Europa immer wieder von neuem zeigt. Sogar in einem Lande wie England sind die Arbeiter heute wieder gezwungen, gegen die gesetzliche Bedrohung des Koalitionsrechts in die Schranken zu treten, und in anderen Ländern ist der Zustand noch schlimmer. Den Regierungen widerstandslos gestatten, alle mühsam errungenen Rechte und Freiheiten mit einem einfachen Federstrich wieder aus der Welt zu schaffen, heißt die Errungenschaften vergangener Revolutionen kampflos preisgeben und widerspricht allen revolutionären Prinzipien. Gerade weil wir heute begreifen, daß die Menschheit sich nicht von heute auf morgen zu einem Zustand vollständiger Freiheit und sozialer Gerechtigkeit durchringen kann, ist es doppelt notwendig, jede Position, welchen den Mächten der Autorität in der Vergangenheit im heißen Kampfe entrissen würde, mit aller Zähigkeit zu verteidigen und sie nicht achtlos preiszugeben, weil sie uns im Hinblick auf das große Endziel bedeutungslos erscheint. Auch der kleinste Fortschritt auf dem dornenvollen Wege zu einem freien Menschentum ist von Bedeutung und sollte keinem weltfremden Doktrinarismus geopfert werden.

Ähnliches läßt sich über die wirtschaftlichen und sozialen Errungenschaften sagen, welche sich die Arbeiter in harten Kämpfen erzwungen haben, und die nicht zum wenigsten dazu beigetragen haben, ihr Gerechtigkeitsempfinden und Solidaritätsgefühl zu stärken und innerlich zu vertiefen. Ihre täglichen Kämpfe einfach mit dem Bemerken abtun zu wollen, daß dadurch nichts an dem Wesen des Lohnsystems geändert würde, heißt das tiefere Wesen sozialer Bewegung in gröblicher Weise mißverstehen, und wir dürfen uns nicht wundern, wenn derartige Ansichten den Opfern des heutigen Systems direkt vor den Kopf stoßen und uns gewiß keine Sympathie erringen. Nein, auch wir Anarchisten sind keine Gegner von Verbesserungen innerhalb der heutigen Gesellschaft, nur unterscheiden wir uns in den Methoden, notwendige Reformen durchzuführen. Wir glauben nicht, daß dieselben lediglich auf dem Wege der Gesetzgebung, sondern nur mit der Hilfe direkter Aktionen und entsprechender Volksbewegungen durchgeführt werden können. Gerade auf diesem Gebiete, wo es sich um den Schutz alter Errungenschaften handelt, die von der Reaktion bedroht werden, wäre ein Schutz- und Trutzbündnis auch mit anderen Richtungen von eminenter Bedeutung, auch wenn sie nur teilweise mit unsren Anschauungen übereinstimmen.
 
Aus: Fanal, 2. Jahrgang, Nr. 4, Januar 1928. Digitalisiert von www.anarchismus.at anhand eines PDF der Anarchistischen Bibliothek und Archiv Wien (bearbeitet, Oe zu Ö usw.)


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