Erich Mühsam - Die Eroberung des Staates (1927)
Seit Karl Marx auf dem Haager Kongreß 1872 mit den verwegensten Mitteln der Demagogie, der Schiebung und der Ranküne die unter dem Namen Erste Internationale in der Geschichte fortlebende Internationale Arbeiter-Assoziation zertrümmerte, ist der Streit, um dessentwillen diese verhängnisvolle Tat verübt wurde, niemals zur Ruhe gekommen.
Es war der Streit um den Staat, den Marx und Engels erobert, Bakunin zerstört wissen wollte. Alle übrigen Fragen, um die zwischen den beiden großen Strömungen der Arbeiterbewegung gestritten wurde, waren dieser Differenz untergeordnet. Die Marxisten verlangten, daß das revolutionäre Proletariat durch Beteiligung an den Parlamentswahlen Einfluß nehmen sollte auf die Legislative der kapitalistischen Staaten und im Rahmen der staatlichen Gesetzgebung sogar die Verstaatlichung der wichtigsten Verkehrs- und Produktionsmittel anzustreben hätte: das war die natürliche Konsequenz der Lehre, die auf die Eroberung der Staatsmacht und mithin auf den schließlichen Gebrauch der auf revolutionärem Wege erlangten Staatsgewalt zur Umformung der kapitalistischen Wirtschaft in sozialistische Formen abzielte, um erst dann die Staatsorganisation durch sich selbst überflüssig zu machen und "absterben" zu lassen. Die bakunistischen Antiautoritären zogen ihrerseits aus der Erkenntnis, daß der Staat als gegebene Ausdrucksform des Kapitalismus sein Wesen keinesfalls ändern könne, und daher die Grundforderung der proletarischen Revolution seine vollständige Zerstörung sei, den ebenso folgerichtigen Schluß, jede Beteiligung an der Verwaltung des Staates bedeute seine Anerkennung, stärke seine Autorität und verbürge seine und also die Dauer der kapitalistischen Einrichtungen; daher seien die einzig nützlichen Kampfmittel des Proletariats diejenigen politischen und wirtschaftlichen Aktionen, welche "umittelbar und direkt" die Destruktion des Bestehenden ins Auge faßten. Auch das Problem, um das in der Ersten Internationale am heißesten gerungen wurde, das die Organisationsform der proletarischen Koalitionen betraf, Zentralismus oder Föderalismus, konnte nur im Zusammenhang mit der Frage entschieden werden, ob der Staat zu erobern, d.h. in praktischer Mitarbeit zu erhalten und dann im gewaltsamen Aufstand in eigene Regie zu übernehmen oder zu zerstören, also nach nur auf die Revolution bedachter Vorbereitung durch restlose Auflösung seiner Verwaltungseinrichtungen funktionsunfähig zu machen sei.
Die Marxisten handelten von ihrem Standpunkt aus vernünftig, indem sie die Organisation, die sie als künftige Lenkerin des Staates betrachteten, mit den gleichen funktionellen Eigenschaften ausstatteten, die den Staat zum Staat machen: zentralistisch, oder was dasselbe ist, obrigkeitlich, mit bürokratischer Befehlsgewalt die nur mit formal-demokratischen Rechten versehenen Mitgliedermassen einer regierenden Führerschaft unterwerfend. Nicht minder vernünftig organisierten die bakunistischen Staatsverneiner ihren Anhang von Anfang an in der dem Staatsprinzip entgegengesetzten Form der Föderation, der Gruppierung von unten nach oben, mit Selbstbestimmung und Selbstverantwortung der solidarisch verbundenen Einzelnen, bei Beschränkung aller Verwaltungsfunktionen auf die bloße Ausführung der autonomen Beschlüsse der Arbeiter selbst.
Die Verwirklichung föderalistischer Gesellschaftsformen wäre in Rußland seit 1917 Tatsache, hätten nicht leider die Marxisten ihre zeitweilige Einsicht nachträglich zurück revidiert und an Stelle der verfassungsmäßig festgelegten Räterepublik, die im Wesen anarchistisch ist - die Idee des Rätesystems wurde meines Wissens zum ersten Mal auf dem Basler Kongreß 1869 von dem belgischen Anarchisten Hins klar entwickelt und formuliert -, die schroff staatliche Diktatur einer Parteizentrale gewaltsam durchgesetzt. Die Errichtung eines neuen Staates auf den Trümmern des in der Oktoberrevolution mit vorbildlicher Gründlichkeit beseitigten früheren mußte alle die beklagenswerten Wirkungen nach sich ziehen, die das revolutionäre Weltproletariat an dem Rußland von heute in bitterster Enttäuschung fast verzweifeln lassen: die Anpassung an die Staatsmethoden der übrigen Länder, die neue ökonomische Politik mit ihrem immer weiteren Zurückweichen vor den Ansprüchen des Ausbeuterkapitals, die Proletarisierung der Kleinbauernschaft bei gleichzeitigem Hochschwellen des Kulakenkapitalismus, endlich die Omnipotenz der Bürokratie, deren entsetzlichste und vor jeder revolutionären Betrachtung verderblichste Äußerung die blindwütige Verfolgung der linksrevolutionären Arbeiter und Bauern ist, die unter der Revolutionsparole "Alle Macht den Räten!" noch heute etwas anderes verstehen als das kritiklose Hinnehmen ungezügelter Bürokratenwillkür. Mit diesen Erscheinungen hoffe ich mich im nächsten Heft des FANAL bei der Beschäftigung mit einigen sehr instruktiven neuen Erzeugnissen der russischen Literatur näher befassen zu können.
Die Pariser Kommune hatte sogar bei Marx und Engels vorübergehend Zweifel erweckt, ob ihre im Kommunistischen Manifest begründete These von der einfachen Übernahme des Staates vor einer Klassenrevolution des Proletariats standhalten könne; ja, sie überwanden sich in der Adresse des Generalrats über den Bürgerkrieg in Frankreich zu dem Eingeständnis, die Kommune habe den Beweis geliefert, "daß die Arbeiterklasse nicht die fertige Staatsmaschine einfach in Besitz nehmen und sie für ihre eigenen Zwecke in Bewegung setzen kann".
Die Tatsache, daß die beiden Dioskuren, 3 Monate nach der Heraushebung dieser Sätze im Vorwort zur Neuausgabe des Kommunistischen Manifestes vom 24. Juni 1872, dennoch um der Staatsfrage willen die Internationale sprengten, beweist, wie falsch die Auffassung Pannekoeks und Lenins ist, Marx und Engels hätten sich mit diesem Satz zur Zerstörung des Staates bekannt. Der Satz besagt nichts weiter, als daß die Eroberung des Staates nicht so einfach vor sich gehen könne, wie sich seine Verfasser das 1847 vorgestellt hatten und daß die Arbeiterschaft an der Staatsmaschinerie einige Veränderungen werde vornehmen müssen, ehe sie nach ihrem Wunsche funktioniere. Insofern hat Mehring recht, wenn er in seiner Marx-Biographie (S. 460) "einen gewissen Widerspruch" mit den Ansichten feststellt, die im Kommunistischen Manifest bekundet waren. Mehring erklärt diesen Widerspruch mit dem Bedürfnis, der Pariser Kommune ein Lob zu spenden, das sich mit der unveränderten alten Auffassung über die Eroberung des Staates deswegen nicht gut vereinbaren ließ, "weil sie damit begonnen habe, den Schmarotzer Staat mit Stumpf und Stiel auszurotten". Im übrigen bezeichnet Mehring den kleinen Widerspruch selbst nur als einen Vorbehalt und widerlegt den Versuch Lenins, die von ihm veranlaßte Mitwirkung der bolschewistischen Partei bei der Zerstörung des Staates als im Einklang mit den seit 1872 von Marx und Engels vertretenen Auffassungen hinzustellen, mit der bündigen Feststellung: "Später aber hat wenigstens Engels, nach dem Tode von Marx, im Kampfe mit anarchistischen Richtungen diesen Vorbehalt wieder fallen lassen und ganz die alten Anschauungen des Manifestes wiederholt."
Die Beteiligung der revolutionären Proletarier am Parlamentarismus war bei Marx und Engels und bei den sozialdemokratischen Parteien, die ihre Theorieen befolgten, logisch begründet in der Absicht, später die Staatsmacht zu übernehmen, gleichviel ob es nun einfach oder umständlich wäre, die fertige oder umzumontierende Maschine für die eigenen Zwecke in Bewegung zu setzen. Die bolschewistische Lehre, daß der Staat zu zerstören sei, das revolutionäre Proletariat aber gleichwohl Delegierte in die Parlamente, Behörden und selbst in die kapitalistischen Staatsregierungen zu entsenden habe, ist jedoch offenbar widersinnig. Was Lenin in seiner Kinderkrankheits-Broschüre zur Beschwichtigung derer sagt, die darin die Rückkehr zu sozialdemokratischen Traditionen erblicken wollten, entbehrt durchaus der Überzeugungskraft, mit der er in seinen anderen Schriften auch den Meinungsgegner zu fesseln weiß. Seine Argumentation läuft schließlich auf die alte Tröstung hinaus, mit der schon Wilhelm Liebknecht 1870 seinen Abstieg von dem noch 1869 geheiligten antiparlamentarischen Postament begleitete, daß man die von der Bourgeoisie zur Verfügung gestellte öffentliche Tribüne benutzen müsse, nicht um den Staat zu verwalten, sondern um ihn zu untergraben.
Was die Beteiligung der Sozialdemokraten an den parlamentarischen Schachermacheien des kapitalistischen Staates untergraben hat, wissen wir: bestimmt nicht den Staat, wohl aber den revolutionären Charakter der Sozialdemokratie und nicht etwa bloß eines kleinen Teiles ihrer reformistischen Führerschaft. Unsere Partei-Kommunisten unterscheiden ja so gern die Sozialdemokraten bis zum 4. August 1914 und seither und preisen die Heroen von ehedem, die sich dem Eindringen des Reformismus und der Staatsstreberei eifernd widersetzt hätten. Ja, wenn Bebel gelebt hätte - der hätte doch den Umfall zum Kriegspatriotismus nicht mitgemacht! Bitte: Am 7. März 1904 sprach August Bebel im Deutschen Reichstag zum Militäretat beim Titel "Gehalt des Kriegsministers" folgende Sätze: "Wir werden ja nun keine roten Blumen an unsere Helme stecken (Stürmische Heiterkeit), aber die Gesinnung bleibt doch. Sie können keinen siegreichen Krieg mehr ohne uns führen und siegen nur mit, nicht gegen uns. (Vielfaches Sehr richtig! bei den Sozialdemokraten.) Wenn es sich je bei einem Krieg um Deutschlands Existenz handelt, werden auch wir bis zum letzten Mann kämpfen, um unser Vaterland, unsern Boden zu verteidigen. Allzeit und jederzeit werden wir den Versuch, auch nur ein Stück Boden von Deutschland abzureißen, bis zum letzten Atemzug bekämpfen (Zuruf rechts: Sehr schön!) Ich rede nicht Ihnen zu Liebe ..." Nein, Bebel redete der marxistischen Auffassung zu Liebe, daß der Staat zu erobern, somit im ganzen Umfang seines räumlichen Bestandes zu übernehmen sei, weswegen er natürlich auch als Vaterland anerkannt und bis auf das kleinste Stück Boden verteidigt werden müsse.
Unsere Kommunisten von heute wollen ja nun aber als echte Leninisten-Bolschewisten den Staat wirklich zerstören. Wie machen sie das? Nun, sie machen es genau so wie die Sozialdemokraten es machen, daß sie den Staat erobern wollen. Ein Beispiel: die Lebensmittelpreise steigen, die Mieten steigen, die Steuern steigen, die Zölle steigen, die Portokosten und Telefongebühren steigen. Warum? Letzten Endes natürlich, damit der Profit der Agrarier, der Industriellen und der Finanzkapitalisten sich vermehre, gleichzeitig doch aber und in natürlicher Wechselwirkung dazu, weil die Erhaltung und Verwaltung der Staatsmaschinerie, an deren gutem Funktionieren nur eben diese Nutznießer des Staates interessiert sind, immer teurer wird. Mag der Lohnarbeiter hungern, dem kann man die Bezahlung seiner Arbeitskraft tief unter das Existenzminimum senken, - die Staatsbürokratie aber darf nicht darben. Da schreien nun die kommunistischen Staatszerstörer Zeter und Mordio gegen die haarsträubenden Zölle, die die Brot- und Zucker- und Fleischpreise unerschwinglich machen, - gleichzeitig aber jubeln sie die demonstrierenden Staatsbeamten an, wenn sie höhere Gehälter verlangen, deren Bewilligung von den den Arbeitern herausgepreßten Lohnabzügen abhängig ist. Die Regierungsparteien, die Demokraten, die Noskemannen, die Kommunisten - alles rennt einander die Hacken ab im Wettlauf um die Gunst der Beamten. Die Kommunisten aber sind allen andern noch über: da wird Erhöhung der Bezüge beantragt, daß man sich die Finger danach ablecken möchte, den Vater Staat als Arbeitgeber zu kriegen. Und das beschränkt sich nicht auf die wirklichen Proletarier unter den Beamten, die Briefträger, die Eisenbahn-Schaffner, alle die Kategorien von Staatsarbeitern, die mit ihres Körpers harter Arbeit nützliche Dienste tun, - o nein, auch der Polizist, auch der Gefängnisaufseher, auch der Gerichtsdiener soll besser in Stand gesetzt werden, das Seine zur Aufrechterhaltung der kapitalistischen Ordnung beizutragen, indem er den revolutionären Arbeiter mit Gummiknüppeln kirre macht, ihn vor den Niedner schleppt und im Kittchen schön verschlossen hält.
Dazu kommen dann noch die eigentlichen Bürokraten, alle diejenigen, die in irgend einem überflüssigen Ministerium in einer überflüssigen Kanzlei überflüssige Verordnungen ersinnen, um damit ihre gesellschaftliche Unentbehrlichkeit zu beweisen, alle die glücklich irgendwo zwischen Scharteken und Pandekten untergekrochenen Schreiberchen, die, weil sie nun mal Beamte sind, auch staatliche Befehlsgewalt ausüben, über die Handarbeiter, die zufällig auch Beamte heißen, weil ihr Ausbeuter der Staat selber ist, und über uns Nulpen aus dem Publikum, die wir das Unglück haben, einmal in ihr Ressort genötigt zu werden. Jeder von ihnen hat ja bei den nächsten Wahlen eine Stimme, und wie sollte er sie der Partei verweigern, die ihm das fetteste Dasein beantragt? Freilich sähe er sich wohl vor, die Kommunisten zu wählen, wenn er ihre Drohung, sie würden den Staat zerstören, ernst nähme. Man wird in der Tat berechtigt sein, einmal ernsthaft die Frage an die Kommunistische Partei zu stellen: Wollt ihr nun eigentlich wirklich noch den Staat zerstören? Was geht euch dann aber dessen Verwaltungsapparat an? Was interessiert euch die Sättigung des Reichswehrsoldaten, wenn euch die Einrichtung, der er dient, verachtenswert scheint?
Wir, die wir außerhalb dieser ganzen seltsamen Staatsbetreuung stehen und, bis die Stunde reif ist, unser Tun der Revolutionierung der Arbeiterschaft und nicht der gerechten Regulierung des Einnahme- und Ausgabenetats der kapitalistischen Zentralinstitution zu widmen gedenken, - wir erkennen beim besten Willen keinen grundsätzlichen Unterschied im Verhalten der der Staatseroberung beflissenen Sozialdemokraten und der zur Zerstörung des Staates entschlossenen Kommunisten. Wir sehen bloß, daß jedesmal, wenn die Sozialdemokraten den Erwerbslosen 30 Mark Unterstützung auf Kosten der arbeitenden Proletarier geben wollen, die Kommunisten verlangen, es müßten mindestens 50 Mark sein, daß die Kommunisten 100 Mark Gehaltserhöhung für den Schupowachtmeister beantragen, wenn die Sozialdemokraten bloß für 75 Mark zu haben sind, und daß die Kommunisten als einziges außerparlamentarische Mittel Straßendemonstrationen veranstalten, bei denen Parlamentarier Resolutionen beschließen lassen, durch die sie vom Parlament Abhilfe verlangen. Daß es ganz andere Mittel gibt, mit denen das Proletariat wirklich etwas erzwingen könnte - sagen wir beispielsweise die Befreiung der politischen Gefangenen oder die Verhinderung der Schulverpfaffung - scheint vergessen zu sein, seit einmal die Herren Ebert und Noske selbst die Einsetzung wirksamer Mittel veranlaßten, damit nicht die um Kapp, sondern sie selbst die weißgardistischen Freikorps gegen die Proletarier hetzen konnten.
Wie also steht es um die wichtigste Frage des proletarischen Kampfes, deutsche Parteikommunisten? Wollt ihr den Staat zerstören oder erobern? All euer Tun und Lassen deutet darauf hin, daß ihr nur noch an die Eroberung denkt, daran also, eure eigene Bürokratie an die Stelle der heute wirkenden Hindenburg-Marx-Bürokratie zu setzen. Wir, die wir keine Marxisten sind, aber besser als die stimmkräftigsten Marxtrompeter wissen, daß die Umstände den Menschenwillen bestimmen und daß aus gleichen Ursachen gleiche Folgen kommen, sagen euch den Weg voraus, den ihr bis zu Ende gehen müßt, wenn ihr die schleunige Umkehr versäumt: es ist der Weg zur Sozialdemokratie; es ist der Weg der Sozialdemokratie; es ist der Weg, der zur Eroberung des Staates führt, aber niemals zu seiner Überwindung und Zerstörung; zur Eroberung des Staates durch das Proletariat für ein paar Parteibürokraten, die nichts weiter sein können als die Platzhalter für die gestürzten Gewalten, die Vernichter der Revolution und die Stiefelputzer der Reaktion. Es genügt, das einmal erlebt zu haben.
Aus: Fanal, 1. Jahrgang, Nr. 11, August 1927. Digitalisiert von www.anarchismus.at anhand eines PDF der Anarchistischen Bibliothek und Archiv Wien (bearbeitet, Ue zu Ü usw.)