Ein Manifest der anarchistisch-kommunistischen Konferenz von Litauen und Polen an alle Arbeiter!

"Die Revolution in Russland führt zur vollständigsten Anarchie!" rufen gemeinsam und schreckerfüllt die russische Regierung und die verschiedensten politischen Parteien — diese "Erneuerer des russischen Lebens", welche sich gegenseitig vorwerfen, schuld daran zu sein. Als echte Kinder der bourgeoisen Welt verstehen diese Herren unter Anarchie ein Chaos, welches zum Gipfelpunkt der Unordnung und Organisationslosigkeit geleitet.

Aber auch wir russischen Kommunisten und Anarchisten sagen dasselbe: die russische Revolution kommt in ihrer Entwicklung immer näher und näher der anarchistisch-sozialen Revolution — der vollkommenen Anarchie.

Logischerweise führt die russische Revolution zur Anarchie. Eine ganze Reihe vergangener Revolutionen, aus der die Arbeiterklasse Bewusstsein, Praxis und Gewohnheit schöpfte, bildet die Garantie dafür.

Wir russischen Anarchisten verstehen unter Anarchie natürlich nicht das, was unsere Gegner darunter begreifen; also nicht Zerstörung, sondern etwas anderes. Doch sogar ob des Sinnes, den die Bourgeoisie dem Worte unterstellt, sind wir nicht allzu sehr besorgt. Viel besser für das Heil der Menschheit wäre es natürlich, wenn die gegenwärtige Gesellschaft um jeden Preis vernichtet werden würde, als wie wenn sie bestehen bliebe, wie sie ist, mit ihrer Gegenwartszivilisation.

Diese Gesellschaft mit Institutionen und Einrichtungen, welche gebaut werden aus dem Blute menschlicher Körper, die Tränen von Unzähligen darbietend ...

Die Bourgeoisie hat guten Grund, die existierende Ordnung scheu zu machen vor den anarchistischen Ideen. Denn diese Ideen des Anarchismus sind ihre gefährlichsten Feinde, der Tod für sie selbst. Das wilde, brutale Geschrei wider sie ist also verständlich; auch der schreckliche Hass, mit welchem sie sich über den Anarchismus stürzt, jene gemein-schmutzigen Massregeln, die sie vornimmt, um diese neue, noch sehr junge revolutionäre Kraft in Russland zu ersticken. All dies ist begreiflich. — Unter ihrer Agonie verbirgt sich ein geheimer Schrecken, Furcht vor der heraufziehenden Revolution, welche der Bourgeoisie und ihren Institutionen Tod und Vernichtung bringen wird. Sie ist besorgt um eben diese "Ordnung", welche die Bourgeoisie heraufbeschworen, die uns in die Anarchie geleitet!  In dieser unserer Ordnung wird kein Platz sein für Herrschsüchtige, für das teuflische Spiel und Treiben der Exploitation, Knechtschaft und Herrschaft.

Unsere Feinde wissen es ganz vorzüglich, dass es sowohl im gesellschaftlichen, wie im Leben der Natur kein Zerstören gibt ohne Schaffen und Neuschöpfen, dass jede kritische, negative Seite eine positive in sich birgt — dass wir im Zerstören Schöpfer und Neugestalter sind! Ganz wie wir, sind sie überzeugt von der schöpferischen Kraft einer jeden Revolution, welch letztere sie aber befürchten müssen. Sie wissen es zu wohl, dass Revolution und Anarchie in Russland zwei zusammengehörende Teile ein und derselben Sache sind. Die Revolution tritt auf als kritische Seite des gesellschaftlichen Lebens, desorganisiert den alten, gesellschaftlichen Mechanismus, zerstört: die alte, absterbende, zerfallende Ordnung, die gefährliche Erbschaft vieljähriger gesellschaftlicher Auswüchse zerstörend: die Regierung — welche ihrerseits das gesellschaftliche Leben in das Joch der Gesetzlichkeit, des Militarismus und der moralischen Sklaverei zwängte; dass die Revolution also durch und mittels dieser ihrer Methoden eine positive Gesellschaftsgrundlage bereitet: die Anarchie, die Herrschaftslosigkeit. Sie gebärt Energie und Freiheit, erweckt Mut, Selbständigkeit und persönliche Initiative, verwandelt den im Staube liegenden, gehorsamen Sklaven in einen protestierenden, energischen Revolutionär, den nichts davon abhalten kann, seine zerstörend-heilige Hand, auf die alten modernden Reichtümer der Macht, auf die bislang hoch und heilig gehaltenen Gesellschafteinrichtungen zu legen.

Die freiheitlichen, des zentralisierten Tendenzen einer jeden Revolution sind die festesten Grundlagen der anarchistischen Prinzipien. Und deshalb trägt jede Revolution diese Prinzipien in die Arbeitermassen.

Die Arbeiterklasse, vereinigt durch ihre gemeinsamen ökonomischen und moralischen Interessen, bildet einen sozialen Organismus. Eine jede Revolution verstärkt ihn, entwickelt das soziale Bewusstsein und vergrössert die Kluft zwischen besitzender und besitzloser Klasse. Gesunde Klasseninstinkte werden dem Proletariat eingepflanzt; all das gibt ihm die Möglichkeit, seine wahren Feinde in der Bourgeoisie zu erkennen, mag sie auch oft sich verkleiden in den roten Gewändern der Demokratie.

Es waren die ersten Schritte, welche das russische Proletariat machte, als es sich zusammen mit der Bourgeoisie erhob. In den zukünftigen Kämpfen sehen wir es, wie es den Phrasen der vielen "guten Freunde" keinen Glauben mehr schenkt. Für das russische Proletariat ist die russische Revolution die letzte Lehre. Es sieht sich verraten auf Schritt und Tritt, es sieht die Revolution, welche Tausende von Opfer kostete, verkauft für schmutzige Stolipinsche Versprechungen; es beobachtet, wie fast alle jene, welche vor noch nicht gar langer Zeit "Es lebe die Revolution!" schrieen, heute vor ihrem anarchistischen Charakter zurückschrecken und, ähnlich der Kuropatkinschen Armee, zurückweichen, die Waffen von sich werfen. Ja, diese neuen Konservativen sind schon konservativ geworden, bevor sie imstande waren, das zu erobern, was sie früher als elementare, naturnotwendige Verbindungen für alles weitere erachteten.

Gleich beim ersten Ausbrechen der russischen Revolution offenbarte und entwickelte sich mit Rapidität eine neue revolutionäre Kraft, bislang fast unbekannt: der Anarchismus. Hervorgerufen vom gesellschaftlichen Leben, gelang es ihm bald, eine bestimmte Position einzunehmen, bewusste Beziehungen zu den verschiedenen gesellschaftlichen Erscheinungen auszuarbeiten. Wahr ist, dass in der noch so jungen Bewegung einige Fehler begangen wurden, welche die Praxis des Kampfes später richtig stellte.

Diese Fehler rücksichtslos aufzudecken und unsere Prinzipien noch tiefer und mächtiger in das Herz der Arbeiter zu pflanzen — darin bestand die Aufgabe unserer Konferenz. Es wurden verschiedene Fragen besprochen, und dann gelangten folgende Punkte zur einstimmigen Annahme durch sämtliche Gruppen:

1. In Erwägung, dass die Uneinigkeit der anarchistischen Gruppen untereinander die Konferenz auf die Prüfung hinwies, raten wir den Gruppen dringend, damit ihre Arbeit und ihr Kampf kein zersplitternder, sondern fruchtbar sei, sich zu Föderationen zusammenzuschliessen.

2. In Anbetracht dessen, dass fast alle Expropriationen, welche bislang von anarchistischen Gruppen Russlands für organisatorische Zwecke durchgeführt wurden, zu klein, und nicht genügend organisiert waren, dadurch eine grosse Verschwendung der materiellen und moralischen Kräfte mit sich führten, verwirft die Konferenz diese Expropriationsform und spricht sich aus zugunsten grosser, wohlorganisierter Expropriationen, geleitet durch die Föderation oder Gruppen. Wir erklären uns für die Expropriation staatlicher und privateigentümlicher Institutionen; erklären ferner, dass nur eine wohlorganisierte Föderation von Gruppen imstande ist, grosse Expropriationen durchzuführen, wie sie die Bedürfnisse der russischen anarchistischen Bewegung erheischen; erklären, dass nur sie dazu fähig ist, das durch die Expropriation Erworbene in zweckentsprechender Weise zu verausgaben.

3. In Erwägung der Beziehungen und Kampfesmittel der demokratisch-sozialistischen Parteien zu uns und den unsrigen, erkennt die Konferenz an, dass jene Parteien nicht die moralischen Möglichkeiten eines prinzipiellen Kampfes wider das bestehende System besitzen. In der falschen Auffassung, in ihrer Bekämpfung unserer Bewegung es nur mit wenigen Individuen zu tun zu haben, tun sie dies sehr oft durch die Anwendung provokatorischer Kampfesmittel. Wir schlagen den Gruppen daher Vor, gegen dieses gemeingefährliche Übel im allgemeinen nur mittels der Methoden der Entlarvung, der Aufklärung und Propaganda unter den Massen anzukämpfen; in ernsteren Fällen jedoch wider diese Subjekte vorzugehen, wie gegen ganz gemeine Provokateure.

4. Die taktischen Mittel der russischen Anarchisten und der übrigen Parteien beurteilend, rät die Konferenz den Gruppen, die Fachorganisationen, unter welcher Form und welchen Namen sie sich auch vorfinden mögen, mit Energie zu bekämpfen, gegen sie vorzugehen wie gegen gefährliche und schlaue Mittel der Bourgeoisie, dazu geschaffen, um die Arbeiter von dem rein revolutionären Wege auf den Weg von Kompromissen abzudrängen, welch letztere das revolutionäre Klassenbewusstsein verdunkeln.

5. Für die Expropriation von Arbeitsprodukten spricht sich die Konferenz in folgenden Fällen aus: Die organisierte Massenexpropriation von Arbeitserzeugnissen ist statthaft in Zeiten des Generalstreiks, der Aussperrung, Arbeitslosigkeit usw. Sie ist es dann und deshalb, weil wir jede philantropische Hilfe der Bourgeoisie wie auch anderer politischer Parteien verwerfen, welche in Perioden arger Volksnot billige Küchen- und Hilfskassen für Arbeitslose einrichten, also Einrichtungen, welche im Proletar eine Bettlerpsychologie erzeugen und die revolutionäre Kampfeslust in ihm ertöten.

6. Konspiration.

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Resolution der Kieffer (1) Sozialdemokratie gegen die Anarchisten

"Die in Russland erzeugte Lage vollständiger politischer Rechtlosigkeit und polizeilicher Willkür hemmt die Entwicklung der Arbeiterorganisationen, welche dazu fähig sind, den ökonomischen und politischen Kampf der Arbeiterklasse zu führen. Doch die herrschende Arbeitslosigkeit, der Hunger und das Elend erzeugen einen günstigen Boden für die Ideen des Anarchismus und die anarchistischen Kampfesmethoden.

Eine solche Lage der Dinge brachte es zur starken Entwicklung des ökonomischen Terrors, welcher sich in der Ermordung von Fabrikaufsehern und höhern Angestellten des Kapitals, wie seiner Diener, auch in der Brandstiftung in den Häusern der Fabrikanten äussert.

Die Auswürflinge der Gesellschaft — professionelle Diebe und Räuber, die diese Ideen der Expropriation natürlich gerne annehmen — begehen in dieser Hinsicht die schändlichsten Gewalttaten und erregen damit die Furcht der Bevölkerung. Es finden Anfälle und Überfälle von Personen statt, die den Zweck haben, gesellschaftliche und staatliche Einrichtungen zu attackieren, deren Angestellte eben jene Personen sind. Und all dies geschieht, indem man die revolutionäre, rote Fahne hochhält...

Diese Versammlung der Kieffer Sozialdemokratie erklärt hiermit, dass die Regierung unfähig ist, mittels Unterdrückungen und Gefängnissen dem stetig wachsenden Elend Einhalt zu gebieten und konstatiert, dass alle Diebstähle und Raubanfälle, Expropriationen erst dann ihr Ende finden werden, wenn die Regierungfolgendes bietet:

1. Sowohl die Arbeiterklasse, wie alle übrigen Bürger müssen das Recht haben, die vollständigen, bürgerlichen Freiheiten zu benützen, sich ihrer zu erfreuen.
2. Ein Parlament, bestehend aus dem ganzen Volk, erwählt durch das allgemeine, geheime und direkte Wahlrecht, muss Gesetzlichkeit und freie Ordnung einführen, wie auch radikale Reformen, um die ökonomische Lage der Arbeiterklasse zu verbessern.
3. Freiheit in politischer und ökonomischer Organisationshinsicht, Versammlungs- und Streikrecht, die Rede- und Pressfreiheit.

In Anerkennung unsererseits, dass die Ideen des Anarchismus reaktionäre sind; dass die Taktik der Anarchisten und anderer revolutionärer Gruppen der Arbeiter, wie auch einzelner Persönlichkeiten, welche anwenden im Kampf wider die bestehende Gesellschaftsordnung die Ermordung von Regierungsvertretern, von Kapitalrepräsentanten, die Expropriation des Eigentums ihrer Feinde — in Anerkennung, dass diese Taktik unzweckmässig und schädlich ist, Verderbnis in die Arbeitermassen hineinträgt und das Klassenbewusstsein des Proletariats verdunkelt, der Idee des Klassenkampfes widerspricht, den Glauben des Proletariats in seinen Kräften abschwächt, oftmals die besten, klassenbewussten Elemente opfert — in Anerkennung all dessen wenden sich die Arbeiter der Stadt Kieff, die ukrainische Sozialdemokratie mit diesem warmen Aufruf an diejenigen ihrer Kampfesbrüder und die Frauen, welche von dem Wege des Klassenkampfes abirrten, fordert sie auf, einzutreten in die existierenden Arbeiterorganisationen und die obigen Kampfesmethoden zu verwerfen. Wir fordern sie auf, einen festgeschlossenen einmütigen Kampf für die Verbesserung ihrer ökonomischen Lage zu führen, um imstande zu sein, jene Ziele zu erreichen, welche die gegenwärtige Lage in Russland diktiert.

Anmerkung:
(1) Gemeint ist Kiev (Anmerkung www.anarchismus.at)

Aus: "Die Freie Generation. Dokumente der Weltanschauung des Anarchismus", 2. Jahrgang, Nr. 4, Oktober 1907. Digitalisiert von der Anarchistischen Bibliothek und Archiv Wien. Nachbearbeitet (Scanungenauigkeiten entfernt, ae zu ä, That zu Tat usw.) von www.anarchismus.at.


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