Pablo Iglesias und die Anarchisten

Die Sozialdemokratie aller Länder hat in ihrem Kampfe wider den Anarchismus eine Reihe von Aktionen verübt, die einen späteren objektiven Historiker dieser Partei mit Wehmut und Empörung erfüllen wird. Eine Partei, die vorgibt, im Interesse des Proletariats zu wirken, darf in ihrem Kampfe gegen jene, die dem widersprechen und in ihrer theoretischen Begründung genug der Beweise erbringen, weshalb sie dies tun, ganz abgesehen von den handgreiflichen Tatsächlichkeiten historischer Erfahrung, die laut für die Philosophie und Taktik des anarchistischen Gedankens zeugen — eine solche Partei, wie die Sozialdemokratie, darf sich niemals so weit vergessen, in ihrem Hasse gegen den emporstrebenden Glutgedanken echtester Emanzipation gemeinsame Sache mit den Gegnern, dem Staate, der Polizei zu machen.

Leider aber besitzen wir eine Anzahl von Vorfällen, vornehmlich in den germanischen Ländern, aber auch in den romanischen Staaten, daß die Sozialdemokratie sich in ihrem "geistigen Kampfe" gegen die anarchistische Bewegung der verwerflichsten, jesuitischen Methoden bedient hat, insbesondere oftmals die Polizei als indirekte Helfershelferin gegen den Anarchismus gebrauchte.

Veranlassung zur Berührung dieses dunklen Kapitels in der Geschichte der sozialdemokratischen Partei bietet uns eine Polemik in der französischen Presse, im Hervéschen "La Guerre Sociale", in welchem Blatte unser greiser Vorkämpfer Charles Malato dem Führer der spanischen Sozialdemokratie, Pablo Iglesias, den Vorwurf machte, das heldenmütige spanische Proletariat während seines heroischen Generalstreiks im Februar des Jahres 1902 nicht nur rein theoretisch bekämpft, sondern sich auch direkt der Polizei bedient zu haben. Wie nicht anders zu erwarten war, versuchte es Iglesias, sich von dieser vernichtenden Anschuldigung, die nicht etwa von einem berufsmässigen Verleumder, sondern von einem allgemein geachteten und großen Denker der anarchistischen Philosophie ausging, zu reinigen. Aber es mißlang ihm das vollständig und eine neuerliche Entgegnung Malatos, der sich nun auch an den in London wohnenden Genossen Tarrida del Marmol gewandt hatte, bietet eine solche Fülle von unwiderlegbarem und auch international wichtigem Material gegen Iglesias und andere, daß wir es für notwendig erachten, dieses als ein historische Wichtigkeit besitzendes Dokument unseren Lesern im Auszuge zu bieten.

Daß Iglesias im Jahre 1902 den Verräter gegen das spanische, in einem Kampfe auf Tod und Leben gegen die herrschenden und besitzenden Klasse befindliche Proletariat gespielt hatte, um dies zu beweisen, dazu bedurfte es keines Anarchisten. Selbst ehrliche, alte Sozialdemokraten waren entsetzt und empört über die von der spanischen Sozialdemokratie damals eingenommene Rolle des Streikbrechertums und der mit ihr allierten Polizei. Besonders war es die Feigheit der Partei, die dem alten Sozialisten Cipriani, eine der edelsten Gestalten des internationalen Sozialismus, Worte des entrüstetsten Protestes über die Lippen drängte, denen er auch literarischen Ausdruck gab, nämlich in einem Artikel der "Petite Republique" vom 19. März 1902. U.a. sagte er dort:

"... Die Revolution von Barcelona war von Grund aus sozialistisch und diejenigen, die es sich leisten zu dürfen glaubten; sie zu desavouieren, haben sich selbst in den Augen der Feinde des Sozialismus verächtlich gemacht. Dies ist der Fall mit Iglesias, der sich während der Unruhen irgendwo in Madrid verkroch. Dieselbe Beschuldigung trifft die Republikaner, die dem Beispiel Iglesias folgten."

Diesem Urteil über den Führer der ja glücklicherweise nur winzigen spanischen Sozialdemokratie, deren Kampf gegen die Anarchisten aber in den Augen der Inquisitions-Regierung eine solche Bedeutung gewonnen hat, daß sie Iglesias zum Mitglied des behufs Köderung der Arbeiter geschaffenen "Bureaux der Arbeiter" machte, müssen die folgenden Briefstellen hinzugefügt werden, um es zu vervollständigen.

"Lieber Malato!

Alle Deine Behauptungen, die Du im "Guerre Sociale" machtest in Bezug auf Pablo Iglesias sind genau und richtig; höchstens vielleicht mit Ausnahme des Wortes "Gendarmen", das er gebrauchte. Ich bin nämlich dessen nicht gewiß, ob er es in jener Rede aussprach, in der er mitteilte, daß er das Mißlingen des Generalstreiks absolut machen würde. Auf jeden Fall aber hatte er die revolutionäre Arbeiterschaft Spaniens der Rache der Gendarmen und Polizisten ausgeliefert, als er in öffentlicher Versammlung die folgenden Worte aussprach: "Die sog. Libertaire sind gar nichts anderes als verkappte Anarchisten, die aber jenen Namen angenommen haben, um den Verfolgungen zu entgehen ... " Diese denunziatorische Handlungsweise ist umso verächtlicher, als gerade um jene Zeit die spanischen Regierungsautoritäten mit entsetzlichster Grausamkeit jeden verfolgten, der sich Anarchist zu nennen wagte, da sie diese Bezeichnung jener eines Dynamitarden gleichstellten. Es war also durchaus notwendig, wollte man die revolutionäre gewerkschaftliche Propaganda fortsetzen, daß die Mehrzahl der spanischen Gewerkschaftler, obwohl durchaus anarchistisch gesonnen, auch in der Taktik gegen Dynamitattentate, jenen anderen Namen adoptiere. Diese feige Denunziation von Iglesias machte diese Vorsorge wertlos und die an Macht stetig gewinnende Regional-Föderation wurde infolge dessen von der Regierung endlich aufgerieben. Es ist dies das gewesen, was dieser erbärmliche Ausbeuter des einschläfernden Parlamentssozialismus wollte.

Doch dies ist noch nicht alles. Durch die Bemühungen einiger in England lebender Kameraden wurde die Aufmerksamkeit der englischen Gewerkschaftler auf den großartigen Generalstreikkampf zu Barcelona gelenkt. Geldsammlungen zur Unterstützung der Streikenden in großem Stil wurden veranlaßt. Da ließ Iglesias durch sein Parteifaktotum, Garcia Quejido, an den Sekretär der englischen "Föderation der Gewerkschaften einen Brief schreiben, der als Resultat den Zusammenbruch des Generalstreiks haben sollte. Diese Tatsache kann durch unumstößliche Beweise belegt werden und sollte Iglesias das leugnen, so werde ich diese unbestreitbaren dokumentarischen Belege erbringen. Ich war damals sehr erfreut darüber zu sehen, daß der Brief nichts anderes enthielt als eine Reihe der durchsichtigsten Verleumdungen und Unrichtigkeiten gegen die katalonischen Arbeiter, die mit so viel Aufopferung ihren Kampf gegen Privilegienmacht führten.

Allein der englische Sekretär, Isaac Mitchell, der als Sozialdemokrat jede wirklich revolutionäre Bewegung haßte und schon zu jener Zeit seine spätere Evolution vorbereitete — er ist gegenwärtig ein hoher Staatsbeamter —, beeilte sich, dieses Verleumdungsschreiben im Bulletin der Föderation zum Abdruck zu bringen, was die Einstellung der Geldsendungen, die den Zweck hatten, die Streiker in ihrem schweren Kampfe zu unterstützen, zur Folge hatte.

Es ist in gleicher Weise wahr, daß Iglesias, unterstützt durch Guesde, Volders und Bebel, es bewerkstelligte, daß Esteve und ich, trotz der Proteste der Genossen Domela Nieuwenhuis und der englischen Delegierten, nicht auf dem Brüsseler Arbeiter- und Sozialistenkongreß zugelassen wurden; man schützte vor, daß wir nur als Anarchisten da wären, obwohl wir uns durch unsere Beglaubigungsschreiben als Delegierte von 55.000 spanischen revolutionär-gewerkschaftlich organisierten Arbeitern ausweisen konnten. Beiläufig bemerkt, signalisierte uns dies auch der Brüsseler Polizei, die bereits zwei Tage früher den Delegierten Merlino auf die analoge Denunziation von Volders hin ausgewiesen hatte.

Im übrigen ist Iglesias das verwöhnte Kind der reaktionären, spanischen Presse, die mit ihm nicht allzu sehr zu feilschen braucht, um gegenseitige Beweihräucherungen auszutauschen.

Man kann sagen, er ist ein Wachthund der spanischen Bourgeoisie insofern sie den Sozialismus für ihre eigenen Zwecke zu benützen, ihn aber vor dem revolutionären Kampf, als Strebensziel des Proletariats, zu verbergen wünscht; es ist hier ein ähnliches Verhältnis, wie es mit Castelar in den letzten Jahren seines Lebens der Fall gewesen, der ja dann auch nur ein Wachthund der Monarchie war, obwohl er unentwegt fortfuhr, sich einen Republikaner zu nennen. All das, was ich anführte, verhindert Pablo Iglesias natürlich nicht im geringsten, sich der hohen Wertschätzung aller Bonzen des internationalen Marxismus zu erfreuen, die sie ja nur für die Mitglieder ihrer eigenen kleinen Kapelle hegen, die sie zusammen bilden.

Du magst von diesem Brief jeden Dir beliebigen Gebrauch machen.

Mit brüderlichen Handdruck Dein

Tarrida del Marmol."

Wir glauben, dieser Brief spricht in seiner Einfachheit und Deutlichkeit mehr als Bände dies tun könnten. Was die im Laufe desselben angedeuteten dokumentarischen Beweise anbetrifft, hat Schreiber dieser Zeilen sie gesehen und gelesen und sind sie tatsächlich unwiderleglich. Sie befanden sich in den Händen des alten, seither verstorbenen englischen Kameraden Sam Mainwaring, der anno 1902 ein Mitglied des Unterstützungskomitees zugunsten der spanischen Kameraden und Kämpfer war. Die Beweise bestehen einfach aus — der ganzen Korrespondenz, die die Verräter und Verleumder mit Mitchell führten.

Das obige Dokument ist eines von den vielen, die veröffentlicht werden könnten. Es wäre verfehlt, dadurch die Arbeiter, die der sozialdemokratischen Partei angehören, als solche treffen zu wollen. Sie sind Verführte. Aber desto lauter und deutlicher wird das historische Urteil über jene sprechen, die die Verführer und Führer der Sozialdemokratie sind.

P. R. (Pierre Ramus)

Aus: "Die Freie Generation. Dokumente der Weltanschauung des Anarchismus", 2. Jahrgang, Nr. 12, Juni 1908. Digitalisiert von der Anarchistischen Bibliothek und Archiv Wien. Nachbearbeitet (Scanungenauigkeiten entfernt, ae zu ä, That zu Tat, inbezug zu in Bezug usw.) von www.anarchismus.at.


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