Max Nettlau - Die Memoiren eines Internationalisten

"L'Internationale. Documents et Souvenirs (1864-1878)". Par James Guillaume. Vol. I. Paris, 1905. X, 302 pp., gr. 8vo. 4 francs.

Diejenigen, welche sich nur für grosse Bewegungen, bestimmte Resultate, praktische Politik interessieren, brauchen in dieses Buch nicht zu blicken, welches in keiner Weise dem üblichen Wunsche nach prompter, wenn auch oberflächlicher Information über das Wesen der "Internationalen Arbeiter Association" entgegen kommt. Diejenigen jedoch, welche mühsame, historische Untersuchungen, die die Grundlage selbst der kleinsten historischen Tatsachenkenntnis bilden, zu würdigen wissen, werden diesen Band von James Guillaume's Memoiren mit Vergnügen lesen, ihn als einen der wenigen, ernst zu nehmenden Beiträge betrachten, die wir zu einer wirklichen Geschichte des Sozialismus besitzen.

Vierzig Jahre sind vergangen, seitdem die "Internationale" in St. Martin's Hall in London, am 28. September 1864 gegründet wurde, und viele Züge der Organisation dieser Association erscheinen uns heute als veraltet. Wer würde gegenwärtig an einen Generalrat denken, dessen Sitz sich in London befindet, dessen Aufgabe es wäre, die verschiedenen nationalen Gruppen zu vereinigen, ihre taktischen Schritte zu überwachen, u.s.w.? Über diesen Generalrat bestehen zwei Legenden; die bourgeoise Legende, welche ihn die geheimnisvolle Macht einer Verschwörerzentrale besitzen lässt, die sozialdemokratische Legende, welche das Gehirn von Karl Marx den Generalrat beherrschen, durch dieses Zwischenglied die gesammte Arbeiterbewegung der sechziger und des Anfangs der siebziger Jahre ihm unterworfen sein lässt. Die Wahrheit kann nur durch die vorsichtige Forschung gefunden werden, und das Resultat ist dann allerdings in Einklang mit dem gesunden Menschenverstand.

Von 1864-1869 mischte sich der Generalrat nicht in irgend wie bemerkenswertem Massstabe in die kontinentale Bewegung und wurde aus diesem Grunde von der ganzen Association wohlwollend toleriert. Von 1869-1872, als seine Machtbefugnisse erweitert wurden, um dem Dinge doch etwas mehr Ansehen und Leben zu geben, missbrauchte der Generalrat seine Autorität, wie schliesslich zu erwarten war; dadurch verursachte er eine allgemeine Revolte innerhalb der "Internationale". Dieser Revolte ist unendlich viel Gutes zu danken, denn durch sie lernten die Mitglieder die Übel der Autorität erkennen, welche sogar dann unvermindert sind, wenn der Hebel der Autorität von Sozialrevolutionären angesetzt wird, denen das grösste Vertrauen entgegengebracht wurde. Der Anarchismus als eine Volksbewegung war die direkte Frucht dieser Revolte, welche ihre Mittelpunkte in den historischen Figuren von Marx und Bakunin fand, jedoch viele jüngere Anhänger auf beiden Seiten besass. Als einer der ersten in den vordersten Reihen der mit Bakunin gegen die Autorität in der "Internationale" kämpfenden Braven, stand James Guillaume, unser gegenwärtiger Verfasser obigen Buches.

Die Einzelheiten dieses Kampfes sind von grösserem Interesse als die blosse interne Geschichte der Association. Dieses Kampfkapitel klingt eigentlich wie die Erzählung über eine weit entlegene Utopie, welche ihre Darstellung im wirklichen Leben findet. Ich meine damit das Folgende: Die "Internationale" umfasste alle die verschiedenen Typen der Sozialisten und Anarchisten jener Periode; und allgemein wurde geglaubt — anfangs von allen Parteien — dass irgend eine Art einer gerechten, ehrlichen Autorität, wie etwa jene des Generalrats, bestehend aus bewährten Sozialisten und Gewerkschaftlern, notwendig und nützlich sei. Die tatsächliche Erfahrung bewies das Gegenteil und im Laufe des Widerstandes, später der Revolte gegen diese Autorität des Generalrates, wurden die Ideen des Anarchismus immer deutlicher und klarer ausgearbeitet und — in der Form einer freien Association, wie sie der internationale Kongress zu Genf, 1873, annahm — wirklich praktisch ausgeführt; einige Jahre später umschlossen die ganze Organisation sogar noch leichtere und freiere Vereinigungsbeziehungen. Der autoritäre Generalrat hingegen wurde im Jahre 1872 nach den Vereinigten Staaten verlegt. Dort schrumpfte er sehr bald zu einem absoluten Nichts zusammen, zu einer winzigen Mumie, die unfähig zu irgend welcher ernsten Arbeit wurde und nur noch zum Zwecke interner Streitigkeiten und phantastischer Exkommunikationsdekrete gegen den Rest der "Internationale", welche kaum etwas von seiner Existenz ahnte, weiterbestand, bis sein kleines Licht im Jahre 1876 vollständig erlosch. Es ist dies die interessanteste, lebendigste Utopie : — die Widerlegung jeder Beherrschung durch tatsächliche Erfahrung.

Bis hieher konnte die Geschichte der "Internationale" aus dem "Memoire", einer Denkschrift, welche die jurassische Föderation den übrigen Föderationen — verfasst von James Guillaume im Jahre 1873 — und uns schenkte, verfolgt werden. Die drei Bände, welche Guillaume jetzt vorbereitet, sind gewissermassen eine unendlich vergrösserte und ungearbeitete Auflage dieser Denkschrift. Aber allen, denen diese ursprüngliche Denkschrift zugänglich, darf geraten werden, sie vor dem vorliegenden ersten Bande des Sammelwerkes zu lesen. Sie werden dadurch die relative Wichtigkeit der verschiedenen Punkte, welche Guillaume jetzt in voller Ausführlichkeit bietet, erst recht begreifen können. Wenn es angeht, dann sollten auch die marxistischen Darstellungen zuerst gelesen werden, vornehmlich das Pamphlet "Ein Komplott gegen die Internationale" (1873). Schwerlich ist es möglich, ein dichteres Gewebe von schändlichsten Entstellungen und Lügen vorzuweisen, als diese Broschüre; dennoch werden ihre Lügen als Evangelienwahrheiten in der deutschen historischen Darstellung der Internationale durch den Sozialdemokraten G. Jaeckh (1904) wiederholt, sogar vergrössert, und die englische sozialdemokratische Zeitung "Justice" fand es für angebracht, die Schundschrift zu übersetzen! Um alle diese Verläumdungen zu entlarven, die Tatsachen durch Dokumente, Briefe, u.s.w., zu demonstrieren, war es für Guillaume notwendig, manche Punkte ausführlicher zu behandeln, als der Gelegenheitsleser für geboten halten mag. Jedoch wird das Buch dadurch nur desto nützlicher und interessanter, je mehr der Leser durch Vorstudien im Stande ist, die Bedeutung der grossen Tatsachen fülle, welche geboten oder gestreift wird, zu würdigen.

Abgesehen davon, dass das Buch ein für alle Male die marxistische Legende über die "Internationale" vernichtet, enthält dasselbe zahlreiche Beiträge zu einer Geschichte der sozialistischen und anarchistischen Bewegung im Schweizer Juragebirge, hauptsächlich im Kanton Neuchâtel. Dies ist nicht allein von lokalem Interesse, wie vielleicht angenommen werden mag. Die ganze Bedeutung der Tätigkeit der "Internationale" erhellt erst recht aus diesem Beispiele, bei dem wir es mit technisch hochstehenden, kenntnisreichen, intelligenten Arbeitern zu tun haben, welche fast vollständige politische Freiheit, einen gewissen Grad von materiellem Wohlstand geniessen — alles Dinge, die seitdem schlechter geworden sind.

Bis zu welchem Grade hat die "Internationale" die lokalen Bewegungen in den verschiedenen Ländern beeinflusst, ihnen geholfen? In den dreißiger und vierziger Jahren gruppierten sich die meisten Sozialisten um einzelne Männer; die Richtungen von Owen, Fourier, Proudhon und vieler anderer entstanden. Nur die Chartisten und die französischen Propagandisten von 1848 bis 1851 formierten grössere Massen in bedingtem Sinne als sozialistische Arbeiterparteien. In den fünfziger Jahren ging all dies unter; aber als in den sechziger Jahren — nachdem Garibaldi den Mut zur Tat bewies — ein neuer Geist des Enthusiasmus überall aufkam, die unterirdische Bewegung wieder an die Oberfläche drängte, war die Zeit der alten Schulen vorbei. Die Idee, Arbeiterparteien zu gründen, beherrschte Alle; in Paris beseelte sie Tolain u.a., in Deutschland Lassalle, in England die Reformbewegung, u.s.w. Während die alten Schulen sich beständig bekämpften und einander widerlegten, ihre verschiedenen Anschauungen nicht vereinigen konnten, waren die neuen Parteien vereinigt in ihrem Kampf um mehr Macht und konnten durch die Solidarität mit anderen Parteien in den verschiedenen Ländern — freilich nicht in ihrem eigenen — nur profitieren. Die Pariser, anfangs einige Hunderte stark, waren froh darüber, die Hunderttausende englischer Trade-Unionisten, mit denen sie sich in der "Internationale" vereinigten, ihren Gegnern entgegen schleudern zu können. Die jungen englischen Reformführer ihrer seits wieder waren — zur Zeit, da Garibaldi und Mazzini bekannt und verehrt in den englischen Massen waren — zufrieden und froh darüber, die Solidarität der pariser Arbeiter mit ihnen darstellen zu können; u.s.w. In dieser Weise, zwischen diesen zwei jungen, jede ihre eigenen Ziele verfolgenden Gruppen von Politikern entstand die "I.", als eine Art von "entente cordiale", kaum etwas mehr nach der Meinung dieser beiden Fraktionen. Es scheint gewissermassen der zweckmässigen Auslese unter französischen und deutschen sozialistischen Flüchtlingen und anderer mehr, als die ersten Mitglieder des Generalrates, zu denken zu sein — eine Auslese deren vorbereitende Massnahmen Le Lubez zugeschrieben werden müssen —, dass das oberflächliche politische Element von londoner und pariser Arbeiterpolitikern eine Gegenströmung von wahren Sozialisten fand, über welche Karl Marx, dank seiner Talente und schriftstellerische Fähigkeiten, sehr bald die Oberhand gewann.

Dazu kamen die internationalen Kongresse von London, der Schweiz und Belgien; sie gestatteten schon leicht die Unterscheidung zwischen blosser Redeblüte, Reformschmächtelei und wahrem sozialistischen Streben. Ein Milieu entstand allmählich für einen internationalen Wetteifer zwischen Staats- und Antistaatssozialisten. Ohne Zweifel eignete sich der Generalrat für zo manche Dirge als nützliches Vermittlungsglied und genoss allgemeines Vertrauen. Doch damit endet seine Rolle; und da dies keineswegs die marxistische Ansicht über die Sache ist, muss man die Tatsache selbst sprechen lassen.

Die londoner Gruppen erachteten den Generalrat als ihre Arbeit; sie erwählten Delegaten zum Generalrat welche derselbe anzuerkennen für klug hielt, während er sich auch selbst durch eigene Kooptierung nach Gutdünken vergrösserte. Die englischen Sektionen, welche zu genau unterrichtet von allen Dingen waren, um den Generalrat als etwas Unbekanntes, Weitentferntes achten zu können, hatten sich Jahre lang zu bemühen, damit der Generalrat ihnen das Konstituirungsrecht als besondere Britische Föderation erteile; nur, weil Marx selbst „den Hebel der Revolution" handhaben wollte. Die französischen Sektionen haben während der Jahre der Aufregung, welche dem Sturze des Kaiserreiches und der Kommune vorangingen, gewiss für sich gehandelt und bedurften keines Rates oder einer Vorschrift von dem Generalrat. Die grosse lassalleanische Bewegung in Deutschland stand ausserhalb der "I." und die langsame Weise, in welcher Bebel, Liebknecht und andere die deutschen demokratischen Vereine für den Sozialismus gewannen, konnte keineswegs von Marx in London gefördert werden. Die belgische Bewegung datiert aus dem Anfang der sechziger Jahre, bevor die "I." existierte und die Belgier waren im besten Einverständnis mit dem Generalrat, eben weil derselbe sich in keiner Weise in ihre Bewegungsangelegenheiten mengte. Die italienische Bewegung in Neapel, Sizilien, in der Romagna, Florenz, Mailand, etc, wurde von den Freunden Bakunin's angefangen. In Spanien gründete Fanelli, Bakunin's Freund, die erste Sektion der "I."; ausserdem besassen die Arbeiter in Katalonien schon seit langem ihre eigenen Vereine, wodurch auch die rapide Ausbreitung und Stärke der spanischen "I." erklärt wird.

In der Schweiz gab es schon demokratische Gesellschaften und Organisationen; sie nahmen gerne den Namen der "I." an und wurden ihre Sektionen. Aber sie setzten ihre politischen Wahlkampagnen fort; ihr Sozialismus war dunkelblauer Natur. Allein in den Juragebirgen warfen diese Zweigorganisationen allmählich die Politik über Bord und wurden offen antipolitische kollektivistische Gruppen. Dies geschah unter dem Einflüsse ihrer aktuellen politischen und ökonomischen Erfahrungen, und die Einzelheiten dieser typischen Evolution füllen den grössten Teil von Guillaume's Werk.

Abermals glauben wir die Übertragung einer Utopie ins wirkliche Leben zu beobachten. Wir finden hier, wie schon erwähnt, Arbeiter, welche die politische Maschine unter den möglichst günstigen Verhältnissen gebrauchen — dennoch gelangen sie schliesslich zur vollständigsten Verwerfung jeder Wahlpolitik. So wird dieser Teil der Darstellung: die Befreiung der jurassischen Arbeiter von der Politik, ebenso typisch, wie der andere: die Befreiung der "I." von Autorität und der Ursprung der modernen anarchistischen Bewegung. Und die Charaktere werden uns alle lebendig; bald sind sie dem Leser wohlbekannt: Bakunin, Constant Meuron, Guillaume, Schwitzguebel, Perron, Varlin, De Paepe, Paul Robin und viele andere.

Über das Buch selbst darf konstatiert werden, dass der Verfasser, welcher im Jahre 1878 die Schweiz verliess und seit vielen Jahren der Geschichte der französischen Revolution aus Quellen studiert, jede Anstrengung, so genau wie nur möglich zu sein, machte, bei jeder zweifelhaften Einzelheit den Wert seiner Quellen darlegt.

Er gebrauchte eine grosse Anzahl von alten Briefen, die er selbst zu jener Zeit schrieb, da die zeitgenössischen Publikationen im Laufe der Jahre fast gänzlich verloren gingen; er war im Stande, dies durch die grosse Anzahl von Dokumenten und Briefen Bakunin's zu ergänzen, welche sich seit jenen Tagen vorfanden. In dem Masse, wie Guillaume uns den grössten Teil der Geschehnisse erzählt, fast Tag auf Tag an uns vorübergeht, werden Ereignisse von allgemeiner oder geringerer Bedeutung neben einander gestellt; der flüchtige Leser wird darin einen Fehler erblicken.

Aber das sollte ihm eigentlich ein Impuls sein, den Gegenstand gründlicher zu beherrschen, denn alles ist von einer gewissen Wichtigkeit. Die Geschichte der "I." wurde und wird von marxistischen Schriftstellern in einer Ausdehnung gefälscht, dass der augenscheinliche Beweis für ihr böses Gewissen von typischem Werte bleibt; jeder Leser, welcher die Fabeln von Marx kennt, wird der totalsten Zertrümmerung des marxistischen Systems der Geschichtsschreiberei mit Genuss beiwohnen. Schade, dass andere Länder noch kein ähnliches Buch über die "I." besitzen. Vor drei Jahren publizierte Anselmo Lorenzo "Das kämpfende Proletariat" , welches Buch den Ursprung und die ersten Jahre der "I." in Spanien behandelt. Es ist ein interessantes Werk, durchdrungen von den besten Absichten, aber auch ein Zeichen, wie viel schon jetzt von dieser Geschichte verloren gegangen und niemals wieder gewonnen werden wird.

In Angiolini's "Geschichte des Sozialismus in Italien" wird die "I." nur oberflächlich behandelt; hier möchte ich gleichzeitig der Hoffnung Ausdruck geben, dass uns Errico Malatesta endlich seine Memoiren geben und uns diesen historischen Teil der "I." erzählen wird, wie nur er ihn erzählen kann. Krapotkin's "Autobiographie" bietet uns Lichtstrahlen über die schweizerische  während der siebziger Jahre, aber, je mehr er zum Schlusse eilt, werden sie viel zu kurz.

Hoffen wir, dass auch sie eines Tages eine grössere Bearbeitung erlangen werden. Die Geschichte der belgischen "I." ist noch ungeschrieben, gar nicht zu sprechen von jener der Engländer, welche jedoch weniger glänzend ist als die anderer Länder, da sogar jene Engländer, welche sich von der Autorität des Generalrats befreiten unter dem Knechtschaftsjoch der Politik verblieben.

Guillaume ist zur Stunde allein im Felde. Er arbeitet jetzt an den zwei letzten Bänden seines Werkes, welche die Periode bis zum Haager Kongress (1872), respektive bis zum Berner Prozess (1877) behandeln sollen und werden.

Aus: "Die Freie Generation. Dokumente der Weltanschauung des Anarchismus", 1. Jahrgang, Nr. 1, Juli 1906. Digitalisiert von der Anarchistischen Bibliothek und Archiv Wien. Nachbearbeitet (Scanungenauigkeiten entfernt, ae zu ä, That zu Tat, allmälig zu allmählich usw.) von www.anarchismus.at.


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