Die Politische Polizei
So sehr es auch richtig ist, daß alles schon einmal da gewesen ist, zumal wenn es sich um das Aufstellen von Meinungen, falschen oder richtigen, handelt, so zweifle ich doch nicht, daß die Behauptung, die ich an den Anfang dieser Betrachtung stellen werde, noch von niemandem ausgesprochen wurde, daß der Leser sogar zunächst glauben wird, er solle mit einem Scherze gehänselt werden. Ich will nämlich den Lesern des Sozialist, den Freunden des Sozialistischen Bundes sagen: wollen sie mit einem weiten Blick nach rückwärts und nach vorwärts ermessen, wie tief wir heruntergekommen sind und wie hoch wir wieder hinauf müssen, so sollen sie zunächst darauf achten, daß Politische Polizei, von der hier einmal gesprochen werden soll, in der ursprünglichen Bedeutung der beiden Worte nichts anderes bedeutet als — Sozialistischer Bund.
Zunächst also — ich fahre ruhig fort und lasse mich von keinem Staunen aufhalten — ist politisch und Polizei das nämliche Wort. Politisch heißt: zur Politeia gehörig, und Polizei ist die Politeia. Politeia aber ist das Gemeinwesen, die Gesamtheit der Stadt- oder Staatsangehörigen, und Aristoteles gebraucht das Wort schlechtweg im Sinne von demokratischer Republik, im Gegensatz zur Monarchie und Aristokratie. Die Politeia ist also die Gemeinschaft oder der Bund der in ihren Interessen vereinigten Gemeinde oder die Republik freier Individuen, die um ihrer solidarischen Interessen willen sich korporativ organisiert haben. Und wollte man nachdrücklich betonen, daß diese Politei oder Polizei keinerlei selbständige Gewalt sich anmaßen dürfe, sondern nur um der Polis, um der Gemeinsamkeit und Gegenseitigkeit willen sich zusammenfüge, könnte man ganz gut ausdrücklich und verstärkend von der politischen, der polititeilichen Politei reden, — so wie wir, um unseren Bund als einen Bund der Gerechtigkeit, der Freiwilligkeit, der Gesellschaft zu kennzeichnen, ihn nicht nur Bund oder Föderation, sondern verstärkend und wiederholend Sozialistischen Bund nennen.
Wir wollen hier nicht die langen und krummen geschichtlichen Wege verfolgen, auf denen die Politeia, die Bürgerschaft oder Republik bis zur Polizei im heutigen Sinn des Wortes herabgekommen ist. Am wenigsten von allen Einrichtungen der Gemeinden und des Staates hat die Polizei, wie sie seit etlichen Jahrhunderten sich herausgebildet hat, mit freiwilligen Korporationen selbständig zusammentretender Individuen oder Bürger mehr zu tun; am meisten von allen behördlichen Institutionen unserer Zeit trägt sie das Gepräge des Absolutismus und des Feudalismus.
Wir geben uns nicht mit Schlagworten ab, um irgend eine Einrichtung verächtlich zu machen oder abzutun. Wenn wir hier die Einrichtung der politischen Polizei einen Rest des Absolutismus und Feudalismus nennen, so heißt das: von der Reformationszeit ab ungefähr hatte sich aus dem Kampf zwischen ständischer Gewalt, Korporationen und Fürstengewalt der absolutistisch-feudale Staat herausgebildet. Es gab, politisch gesprochen, Untertanen und Herren. Mit den Umwälzungen in allen europäischen Ländern, deren großes Vorspiel die englische Revolution, deren Höhepunkt die französische Revolution war, hat die Untertanenschaft und das Gottesgnadentum der absoluten Fürsten aufgehört und an die Stelle des feudal-absolutistischen Staates ist der konstitutionelle Staat getreten: es gibt keine Untertanen und keine Stände mehr, sondern Staatsbürger, die völlige Bewegungsfreiheit haben; nur daß sie, wenn sie sich gegen die selbstgegebenen Gesetze vergehen, nachträglich der Srafe verfallen. Dies ist die Tendenz des modernen Staates, eine Tendenz, die sich in den verschiedenen Ländern mehr oder weniger sauber und vollständig durchgesetzt hat; nirgends gibt es so ansehnliche Reste des Feudalismus und Absolutismus wie in Deutschland, zumal in Preußen, und ein solcher Rest, der nicht nur von unserem, dem Standpunkt der Sozialisten aus, der vielmehr auch im Sinne des liberalen Bürgertums vorsintflutlich, vormärzlich und ein Stein des Anstoßes sein muß, ist die Polizei.
Die politische Polizei ist ein Staat im Staate; die politische Polizei ist der absolute Staat im Verfassungsstaate. Die politische Polizei muß die Tendenz haben, Kenntnis von allen politischen Strömungen, vom ganzen inneren Leben der Parteien und Richtungen zu nehmen. Es werden Personalakten geführt; es wird geschnüffelt und spioniert; Gerüchte, Berichte unzuverlässiger Personen werden zusammengetragen. Nun ist es mit allen Institutionen, mögen es Geselligkeitsvereine, Behörden oder Parteiorganisationen sein, so bestellt: sie werden zu einem bestimmten Zweck gegründet, haben aber die Tendenz in sich, Selbstzweck zu werden. Der Rauchklub "Kartoffelkraut" wird gegründet, um im Anschluß an eine gemeinsame Liebhaberei die Geselligkeit zu pflegen; der Verein soll also den Mitgliedern Maier, Müller, Schulze usw. Dienste tun. Bald aber wird der Klub selbst so etwas wie eine höhere Potenz, ein heiliges Gebilde; sein Zweck kommt nicht mehr in Betracht; er ist da, wie ein Göttlein über den Menschen, und es werden ihm Opfer gebracht. Oder eine Anzahl anarchistischer Vereine und Gruppen schließen sich, wie sie es nennen, zu einer Föderation, aber in Wirklichkeit zu einer Partei mit einer Zentralbehörde zusammen; ursprünglich doch wohl zu dem Zweck, das ihre zur Vorbereitung und Schaffung einer neuen Gesellschaft zu tun; aber wie lange wird es dauern, so wird man schon den Zweck darin finden, daß die Partei selbst recht groß und blühend dazustehen scheint. Schlimm ist schon das, daß die Institution nicht mehr dient, sondern ein Oelgötze wird; schlimmer ist aber oft noch, daß hinter dem Oelgötzen oder in ihm sehr gebrechliche Menschen sich befinden, Angestellte, Kommissionen, Vorstände, Beamte, und daß der Selbstzweck der Institution sich oft in die mehr oder weniger selbstischen Zwecke von Personen verwandelt.
So ist es nun auch in allen Ländern mit der Institution der politischen Polizei bestellt. Nicht das ist oft die Hauptsache, daß sie irgend einem Zweck im Interesse des angeblichen Staatswohls dient; sondern daß sie da ist, also zu tun haben muß, also sich wichtig machen muß, also, wenn sie nicht genug zu tun hat oder in ihrer staatsretterischen Bedeutung nicht genug hervortritt, Anlässe selbst schaffen muß. Das ist immer, in allen Ländern und schon frühzeitig als die besondere Gefahr, als das Heillose und Verderbliche an dieser Institution erkannt worden. Schon 1828 schrieb in seinem Eucyclopädisch-Philosophischen Lexikon der alte wackere Philosoph Krug in dieser Hinsicht: „Freilich hat die Polizei sich oft nicht bloß lästig, sondern auch verhaßt gemacht; ja sie hat Verbrechen begangen und sogar mit Verbrechern sich verbündet, um ihre Zwecke, gute oder schlechte, zu erreichen. Besonders hat die sogenannte geheime Polizei (die man wohl auch eine höhere genannt hat, ob sie gleich wegen der niedrigen Mittel, deren sie sich zu ihrem Zwecke bediente — Erbrechung der Briefe, Spionerie im Schoße der Familien, Aufwiegelung der Unzufriedenen durch verkleidete Polizeidiener, die sich für Gleichgesinnte ausgaben, agents provocateurs — lieber die niedere heißen sollte) sich eben dadurch selbst um allen Kredit gebracht."
Hier sind nun ernste Worte zu sagen. Es ist unbestreitbar und unbestritten, daß diese sogenannte geheime Polizei Verräter bezahlt, damit sie Geheimnisse, die ihnen um ihrer angeblichen Gesinnung willen bekannt geworden sind, der Behörde mitteilen.
Was die militärischen Behörden um der Möglichkeit des Kriegs willen gegen auswärtige Staaten betreiben, Spionage, das organisiert eine von den Mitteln des Volks bezahlte Behörde gegen alle Parteien und Richtungen im eigenen Volk. Denn alle werden sie bespitzelt, je nach der politischen Konstellation: Konservative, Liberale, Klerikale, Polen, Welfen, Elsässer, Dänen, Sozialdemokraten, Anarchisten — und die Regierung selbst.
Es muß nachdrücklich gesagt werden — wie kläglich, daß so Selbstverständliches erst noch gesagt werden muß: — daß es das Recht jedes Menschen und jeder kleineren oder größeren Vereinigung von Menschen ist, Geheimnisse, private Pläne, Besprechungen und Versammlungen zu haben. Dieses letztere Recht ist nunmehr endlich auch im deutschen Reichsvereinsgesetz ausdrücklich anerkannt worden. Wenn die politische Polizei mit Hilfe von Agenten heraushorchen will, was die oder jene Richtung für Absichten hat, dann kümmert sie sich um Dinge, die sie nichts angehen und gebraucht Mittel, über deren Verächtlichkeit alle anständigen Menschen einig sein müßten.
Warum sind sie nicht darüber einig? Warum wird nicht auf dem Wege Rechtens das Institut der Politischen Polizei abgeschafft? Warum werden jahraus jahrein in allen deutschen Ländern die Mittel bewilligt, um einen inneren Krieg gegen die organisierten Volksgenossen in der Weise zu führen, daß eine Staatsbehörde diese Gruppen im Volke eine nach der andern, eine wie die andere ausspioniert? Die Antwort auf diese Fragen liegt in den Anfangsbemerkungen dieses Artikels, die wohl scherzhafte Form haben, aber das Ernsthafteste sind, was hier zu sagen ist: weil wir kein Volk, kein Gemeinwesen, keine Republik von Freien und Aufrechten sind. Wenn wir, die im deutschen Volk vorhandenen Parteien und Richtungen, uns gegenseitig mit Hilfe von Verrätern bespitzeln würden, wären wir traurige Wichte. Wie erbärmlich sind wir aber erst, da wir uns alle miteinander bespitzeln lassen, — ohne daß eine einzige Richtung von den Resultaten dieser Spionage etwas erfährt! Wir wenden alle das gehässigste und verächtlichste Mittel nicht gegeneinander an — aber wir lassen es gegen uns alle anwenden — von einer Behörde, die sich damit zum Widerpart und Feind aller Richtungen und Bewegungen im Volke macht und damit schon bekundet, daß sie nicht unserm Volke und unserer Zeit angehört.
Es ist noch zu bemerken, daß die amtlichen Personen, die den Spionagedienst in diesem inneren Krieg versehen, in Deutschland im oberen Stockwerk fast durchweg Reserveoffiziere, im unteren ausgediente Unteroffiziere mit dem Zivilversorgungsschein sind. Das sind Leute, die zum Kriegführen geeignet sein mögen, die aber für alles Feinere und Psychologische meist nicht den geringsten Sinn haben.
Und noch auf eins sei schließlich hingewiesen: die Staatsvertreter, die solche Institutionen für nötig erachten, betonen mit besonderem Nachdruck den christlichen Charakter des Staats, den sie mit solchen Mitteln schützen wollen. Da ist es gut, in Erinnerung zu rufen, daß Judas Ischarioth ein besoldeter Polizeiagent der jüdischen Behörden, vielleicht ein agent provocateur war, und daß nach Aussage der Evangelien Jesus Christus mit Hilfe dieses Spitzels Judas ans Kreuz geliefert worden ist. Der Geist, der Christus und seine Jünger trieb, lebt heute in den beobachteten und gehetzten Sozialisten und Anarchisten; und der Staat, der sich gegen den Geist der Erneuerung und Wiedergeburt der uralten Mittel der Spionage und der Angeberei bedient, ist kein christliches Gemeinwesen, sondern ein Judas-Staat.
***
Wir erfüllen mit diesen Betrachtungen ein Versprechen, das im Leitartikel der No.2 dieses Jahrgangs gegeben wurde; "wir werden einmal" — hieß es da — "vom prinzipiellen Standpunkt aus, von dem Standpunkt aus, der da geboten ist, nämlich von dem der Wahrhaftigkeit, der guten Sitte und des menschlichen Allstandes aus das Staatsinstitut der Polizeiagenten und amtlich besoldetn Verräter beleuchten". Es liegt aber heute noch eine besondere Veranlassung zu dieser grundsätzlichen Kritik der politischen Polizei vor.
Von Seiten einer Untersuchungskommission, die sich längere Zeit hindurch mit Vorgängen in der deutschen anarchistischen Bewegung beschäftigt und um ihre Aufklärung bemüht hat, ist uns mit der Bitte um Veröffentlichung ein Bericht zugegangen, den wir an anderer Stelle des Blattes veröffentlichen, obwohl die Leser des S. über die verwickelten Zusammenhänge nicht orientiert sind.
Der Sachverhalt, wie ihn die meisten Komniissionsmitglieder, darunter auch drei Kameraden des Sozialistischen Bundes, für festgestellt erachten, ist kurz folgender: Ein alter Genosse der anarchistischen Bewegung erhielt im vorigen Jahr längere Zeit hindurch anonyme Briefe und eilige, depeschenartige Mitteilungen, derer Schreiber mit der Polizei in Verbindung stehen mußte und wichtige Dinge — Geheimnisse der Behörde — seinen Genossen verriet. Zugleich aber erregte er gegen einzelne in der Bewegung stehende Anarchisten unter Anführung angeblicher Tatsachen den Verdacht, daß auch sie der Polizei Dienste leisteten.
Durch das Verdienst des Genossen Paul Frauböse wurde ermittelt, daß Max Schiefer, der als Anarchist galt und Vertrauensstellungen bekleidete, der Schreiber dieser Briefe war; er gestand es auch im Kreise von sechs Genossen mit ausführlicher Angabe von Einzelheiten. Er gestand es, weil man ihm versichert hatte, man glaube an seine idealen Motive. Als er dann merkte, daß dies nur ein Mittel gewesen war, ihn zum Geständnis zu bringen, nahm er sein Geständnis zurück und beschuldigte nunmehr seinen Ankläger, dieser habe ihn zum Schreiben der Briefe veranlaßt; er aber habe nie in Verbindung mit der Polizei gestanden; Frauböse habe ihm all diese Mitteilungen gemacht, um die andere, ihm verhaßte Richtung der anarchistischen Bewegung zu schädigen!
Die Kommission in ihrer großen Mehrheit ist nun zu dem Ergebnis gekommen daß Schiefer ohne Zweifel mit der Polizei in Verbindung stand, daß er — wie so häufig bei solchen Spitzeln — ein doppelter Verräter gewesen sein muß, einer, der seine Bewegung an die Polizei, und der die Polizei an die Bewegung verriet; ein so lange dauernder Verkehr mit Beamten der politischen Polizei erscheint nicht denkbar, wenn diese Behörde nicht Mitteilungen von ihm erhielt, die ihr wertvoll erschienen; ausserdem liegen für seine Verbindung mit der Polizei, auch gravierende objektive Beweisstücke vor.
Die Beschuldigungen gegen einzelne Genossen der Bewegung hat sich niemand in der Kommission zu eigen machen können. Wenn man einen Teil abzieht, der vielleicht nur auf Kombinationen Schiefers beruht, bleibt ein anderer Teil dieser Mitteilungen übrig, der wahrscheinlich auf Mitteilungen eines Polizeibeamten zurückgeht: aber wer kann sagen, aus welchen Motiven dieser Beamte solche Beschuldigungen ausgesprochen hat? Judas und seine Hintermänner sind keine klassischen Zeugen; und weiteres Beweismaterial hat der Kommission nicht das geringste vorgelegen.
***
Dieser Max Schiefer, der von der Berliner politischen Polizei zum Gewerbe des Verrats angeworben und der nun hoffentlich endlich unschädlich gemacht worden ist, war gewiß, er mag im einzelnen noch so viel, was uns unbekannt ist, auf dem Gewissen haben, nur ein kleiner Zuträger im Vergleich zu einem solchen Mordsverräter wie Asew. Aber der Typus ist genau der gleiche: der Verrat, die Treulosigkeit steckt diesen Naturen im Blute; Verrat und Intrigue ist ihnen so sehr Bedürfnis und Element, daß es ihnen garnicht darauf ankommt, wen sie verraten.
Aus Menschen der Art setzt sich die Schutztruppe zusammen, mit deren Hilfe die politische Polizei die geheimen Strömungen in unserem Volke kennen lernen und in ihrem Laufe aufhalten will! Auch wir wollen der Politischen Polizei einmal ein Geheimnis verraten: das wirkliche Geheimnis unseres Volkes und unserer Zeit, die unterirdische Vorbereitung einer ungeheuren Umwälzung, die Revolution der Geister und der gesamten Zustände lebt heute schon in Einzelnen, die sich unter einander an geheimen Zeichen kennen und die keinen unbekannten Oberen brauchen, weil sie alle zusammen einen Bund der Freien und Gleichen bilden, — und von diesem Geheimnis wird kein Polizeikopf jemals Kenntis erhalten, weil er niemals das Geringste davon verstehen wird. Es schwelt ein Brand, es sind gewaltige Explosivstoffe in tiefen Gründen versenkt, es ist ein Bund und eine Verschwörung in der ganzen Menschheit im Gange, — und die Polizei weiß es nicht, ahnt es nicht und hemmt es nicht. Es bereiten sich große Dinge vor, die nie ein Verräter der Polizei zutragen wird, weil nie eine verräterische Seele das Geringste davon wissen wird.
Aus: "Der Sozialist. Organ des Sozialistischen Bundes", 2. Jahrgang, Nr. 11, 1.6.1910. Digitalisiert von der Anarchistischen Bibliothek und Archiv Wien. Nachbearbeitet (Scanungenauigkeiten entfernt, ae zu ä, That zu Tat usw.) von www.anarchismus.at.