Anarchistischer Sozialismus und Sozialdemokratie. Ein Dialog *)

Der folgende Text erschien 1891 in der von Johann Most herausgegeben "Freiheit". Er beleuchtet eindrücklich die Unterschiede zwischen (der damaligen) Sozialdemokratie / dem Marxismus und dem Anarchismus und ist trotz seines Alters absolut lesenswert - nicht zuletzt auf Grund der damals geläufigeren Propagandart des "Zwiegesprächs"... Wiedergegeben wurde er 1904 in mehreren Nummern der anarchistischen Zeitung "Der Freie Arbeiter" - die hier aufbereitete Version sollte vollständig sein.


A. (Sozialdemokrat)
Also Sie sind ein Anarchist! Ich begreife nicht, wie ein vernünftig sein wollender Mensch sich dieser Richtung anschliessen kann. Die stirbt ja überhaupt immer mehr aus und gehört nur zu den Kinderkrankheiten der Arbeiterbewegung. Sie haben wohl nie den wissenschaftlichen Sozialismus von Marx und Engels ordentlich kennen gelernt?

B. (anarchistischer Sozialist) Nun, im Aussterben sind wir gerade nicht, dass liesse sich viel eher in gewissem Sinne von euch, unsern Gegnern, sagen, und was den Marxismus betrifft, den seine eigenen Anhänger den "wissenschaftlichen" Sozialismus nennen - daher dieser Name - so kennen wir ihn ganz gut und glauben begründen zu können, warum wir ihn nicht für besonders "wissenschaftlich" halten.


A. So falsche Behauptungen habe ich selten gehört. Wir, die Sozialdemokratie, die in immer breitere Schichten des Volkes dringt, die immer mehr auch ihren erbittertsten Gegnern im Bourgeoislager Achtung und Bewunderung abnötigt, wären nicht in beständigem Fortschritt begriffen, und gegen Marx, der den kleinbürgerlichen Anarchismus schon 1847 so glänzend widerlegt bat, wollt ihr wirkliebe Gründe und nicht bloss gehässige Angriffe vorbringen. Ich wäre reugierig, euren Standpunkt und eure Begründung desselben zu hören.

B. Das kann geschehen, wir haben keine Diskussion unserer Ideen zu scheuen. Zuvor eine Bemerkung zu meiner vorigen Äusserung. An Zahl nimmt die Sozialdemokratie wohl zu, aber was sie einst war, ist sie heute nicht mehr. Den Sozialismus habt ihr an den Nagel gehangt und seid, unter wohlwollender Billigung eurer Mässigung durch die Bourgeoisie, soziale Reformer und demokratische Politiker geworden. Das liesse sich bald nachweisen, aber wenn unsere Diskussion an Stelle invektiver Polemik einen nützlichen, sachlichen Charakter haben soll, müssen wir diese praktischen und persönlichen Fragen einstweilen bei Seite lassen und uns die theoretische Begründung des Anarchismus und des Marxismus ansehen; denn aus Ihrem Vorwurf "kleinbürgerlich" sehe ich, dass Sie über die anarchistischen Theorien überhaupt unrichtig informiert sind.


A. Das möchte ich doch bestreiten. Ich habe z.B. Marx' 1847 erschienene Schrift gegen Proudhon gelesen, die doch, wie alles, was Marx schrieb, noch zeitgemäss sein muss, sonst hätten sie K. Kautsky und E. Bernstein doch nicht 50 Jahre späten deutsch erscheinen lassen; auch Engels hat ja Proudhon in der bald darauf wieder aufgelegten "Wohnungsfrage" ganz abgethan. Nach Proudhon kam freilich noch Bakunin, der hat aber doch eigentlich nur Proudhon "vervollkommnet", wie Engels sagt, und tat ja alles, die Arbeiterbewegung zu ruinieren, wie die Schrift: "Ein Komplott gegen die Internationale" zeigt. Dann kamen Most und die "Freiheit" und die anderen Blätter in London. Und schliesslich "Der Sozialist", "Der arme Konrad", "Neues Leben" und nun "Der freie Arbeiter" und der "Anarchist". Die habe ich dann und wann gesehen, aber immer entrastet weggelegt, wenn ich sah, wie darin gegen die Sozialdemokratie und ihre Führer polemisiert wird.

B. Wenn Sie diese Blätter nicht lasen, sondern nur "entrüstet weglegten", kann man Ihnen nicht helfen. Sie hätten aber bedenken müssen, auf welche mitunter geradezu infame Weise die Anarchisten von der sozialdemokratischen Presse behandelt wurden. Aber wir wollen auf die Theorien eingehen.


A. Nun gut. Sagen Sie also, was die Anarchisten eigentlich wollen.

B. Wenn ich sage: das Glück der Menschen, so antworten Sie: das wollen wir auch. So kommen wir nicht weiter. Wir wollen der Reihe nach das Ziel und dessen Begründung, die Mittel und Taktik besprechen. Das Grundprinzip aller Anarchisten ist das der "Freiheit", nämlich -


A. Absolute Freiheit ist ja gar nicht möglich.

B. Das sagt man uns gewöhnlich, weil man missversteht, was wir unter Freiheit verstehen. Wir verstehen darunter: die Freiheit der Entwickelang, die freie Entwickelang, die Ansicht, dass jede Sache in grösstdenkbarer Freiheit allein sich so vollkommen, als möglich ist, entwickeln kann. Jede Hinderung dieser freien Entwicklung ist schädlich, direkt oder indirekt.


A. Das scheint richtig zu sein, das wollen wir ja auch. Aber die Freiheit rauss eine Grenze haben, der einzelne muss sich der Gesamtheit unterordnen, Erziehung und Schutz müssen an Stelle unverstandener, missbrauchter Freiheit treten.

B. Ihre Nachsätze heben Ihr anfängliches Zugeständnis auf. Das zeigt, wie wenig tief Ihr den Satz von der freien Entwicklung, der Euch ja ganz wissenschaftlich vorkommt, auffasst. Ihr sagt, Ihr wollt die freie Entwicklung und habt doch kein Vertrauen in sie.


A. Sie wollen also die unbegrenzte Freiheit und  verwerfen jede Einmischung der Gesamtheit in die  Freiheit der einzelnen ?

B. Wie gross auch immer die anscheinenden Vorteile einer solchen Einmischung sein mögen, ihre schlechten Folgen - direkt oder indirekt - werden immer grösser sein. Sie können einen mit Wohltaten überschütten, aber der wird nur eine geistige Poppe bleiben; sich wirklich menschenwürdig entwickeln wird nur einer, der seinen eigenen Weg geht.

Das ist im Kleinen wie im Grossen der Fall. Selbst wenn schwache Naturen zu Grunde gehen sollten, ist der Wert einer minder grossen Zahl frei und selbständig entwickelter Menschen grösser, als der einer unter "aufgeklärtem Despotismus" - denn auf etwas anderes laufen all eure demokratischen und staats-sozialistischen Systeme nicht hinaus - lebenden. Willen - und energielose Masse.

Unter Wert verstehe ich durchaus nicht den Wert für andere oder die Gesamtheit, sondern den subjektiven, persönlichen Wert. Ein frei entwickelter Mensch ist sich selbst viel mehr wert, hat einen grösseren Genuas, grössere Fähigkeit des Genusses des Lebens und Glücks als ein nicht entwickelter; wir wünschen also einen Gesellschaftszustand, der diese vollkommene Entwicklang im grösstmöglichen Umfange ermöglicht, und der scheint uns die Anarchie zu sein.


A. Also soll jeder für sich leben? Aber das läuft ja jeder Kultur und Zivilisation entgegen, schlägt der ganzen Entwicklung der Produktionsweise ins Gesicht; aller Fortschritt wäre aufgehoben ...

B. Geduld. Das sind nur willkürliche Folgerungen aus unserem Prinzip. Die Menschheit befindet sich auf einer Kulturstufe auf der die freie Entwicklung selbst fast jeden zur Einsicht der Vorteile des Zusammenarbeitens bringt, und daher wird das freiwillige Zusammenarbeiten und mit ihm die Benutzung und Vermehrung aller Fortschritte der natürliche, selbstverständliche Zustand sein. Ein solcher aber bedarf keines Zwanges.

Zunächst die Verwerfung der Herrschaft der Majorität. In unserem Zustand wird man über eine Sache durch Diskussion sich mehr oder weniger, in den meisten Fällen wohl ganz, einigen. Geringere Differenzen legen sich allmählig bei; bei grösseren geht jeder Teil seinen eigenen Weg; das Experiment und Beispiel und dessen Erfolg werden die meisten oder alle wieder zusammenführen; und wenn nicht, nun so ist es tausendmal besser, dass beide Teile ihren eigenen Weg gehen, als dass sie durch Zwang künstlich zusammengehalten werden.

Was jeder vernünftige Mensch heute schon für den an Stelle der durch Zwang zusammengehaltenen Ehe tretenden Umstand hält, freies Zusammentreten und freie Trennung ohne Einmischung dritter Personen, wird eben in allen Sphären des Lebens das allgemein übliche sein.


A. Aber wenn die Majorität, die stärker ist, die Minorität zwingt, sich zu fügen? Eigentlich herrscht ja doch die Majorität immer, auch wenn sie dies nicht erzwingt, indem sie dann auf das Recht des Stärkeren freiwillig verzichtet.

B. Letzteres ist eine Spitzfindigkeit. Die Majorität unterwirft sich gewiss nicht schweigend, wenn ihr die Sache nicht selbst zusagt, und dann liegt ja keine Spaltung vor, ist von Majorität und Minorität überhaupt keine Rede. Und wenn sich die Majorität der Minorität fügen würde, wäre das ja eine Herrschaft der Minorität, also ein um nichts besserer Zustand, während wir Gleichberechtigung, vollständige Achtung der gleichen Rechte Andersdenkender wollen.
   
Was den Fall betrifft, dass eine Majorität mit Gewalt ihre Ansicht durchsetzt, ist das etwas, das mechanisch nicht gehindert werden kann. Sollte so ein Fall eintreten, kann ihn nichts hindern, ebenso wenig wie sich verhindern lässt, dass ein plötzlich wahnsinnig Werdender grosses Unglück anrichtet.


A. Dadurch geben Sie ja die Unmöglichkeit Ihres Systems zu.

B. Durchaus nicht. Wir behaupteten nie, einen absolut vollkommenen Zustand anzustreben, weil ein solcher überhaupt nicht denkbar ist. Alles was wir wollen und wollen können, ist ein Zustand, in welchem derartiges möglichst selten vorkommt und in seinen Folgen möglichst wenig schadet. Dies ist in unserem Zustande mit dem mechanischen Übergewicht der Majorität der Fall.

Jeder wird so den Wert der Freiheit kennen lernen, dass er einen andern nur als freien Menschen achtet, und er weiss ja, dass er auf dasselbe Gefühl von Seite der andern angewiesen ist, um seine eigene Freiheit zu geniessen. Ferner werden einer Majorität keinerlei behördliche Gewalt, Gesetze etc. zur Verfügung stehen. Dies führt mich zu eurem sozialdemokratischen Standpunkt.

Ihr greift uns an, weil es denkbar ist, dass eine Majorität einmal intolerant ist, und dann Gewalt gebraucht und herrscht - was wir nie geleugnet haben. Aber es kommt euch schlecht zu, dies gegen uns auszuspielen. Denn was wollt ihr selbst? Ihr wollt die Majoritätsherrschaft, nicht die vereinzelte, einer Katastrophe vergleichbare, sondern die beständige Vergewaltigung jeder Minorität durch die herrschende Majorität. Dieser gehört die Verfügung über die ganze Produktion, ihr stehen Gendarmen und Kerker für die Minorität zur Verfügung. Die Minorität ist, den demokratischen Grundsätzen entsprechend, der Majorität gebunden ausgeliefert. Das ist ein Zustand, in dem der freien Entwicklung und jedem Fortschritt die denkbar grössten Hindernisse in den Weg gelegt sind.


A. Aber wer denkt an Kerker und Gendarmen im freien Volksstaat?

B. Manche, das Beste in ihrer Weise wollende Sozialdemokraten allerdings nicht; aber wenn sie das nicht voraussehen, desto schlimmer für ihre Urteilskraft. Andere schon; wenn man ihre Blätter liest, möchte man glauben, sie würden schon heute für Andersdenkende, z.B. für Anarchisten, am liebsten die Inquisition wieder einführen. Meine Behauptung selbst wird sich im Folgenden bestätigen. Wir verwerfen ferner, dem Prinzipe der freien Entwicklang zufolge, Gesetze und permanente Regulationen jeder Art.


A. Schlechte Gesetze verwerfen wir Sozialdemokraten gewiss auch, aber man muss das Kind nicht mit dem Bade ausschütten, man muss bessere Gesetze machen...

B. Ja, und um die zu machen, muss man die richtigen Männer wählen u.s.w. u.s.w. - Das sagt seit 100 Jahren jeder abgetane Demokrat, und während die heutige elende Wirtschaft dem Volk die Augen zu öffnen beginnt und es sieht, dass es diesen Leuten nur darum zu tun ist, an der vollen Schüssel zu sitzen und ihren Raub und ihre Privilegien durch Gesetzesparagraphen sanktionieren zu lassen, redet Ihr ihm diese naiven Phrasen von den "richtigen" Gesetzen und den "richtigen" Männern etc. wieder vor, teils Betrüger, teils Betrogene. Doch von der praktischen Tätigkeit und Taktik wollen wir ja erst später sprechen.

Für uns wäre das "beste" Gesetz, das am wenigsten in die freie Entwicklung eingreift. Zwang ausübt, vergewaltigt - also was sich am weitesten von dem was man Gesetz nennt, entfernt. Es würde nur eine Konstatierung von Tatsachen sein müssen, um die Entwicklung nicht in irgend einer Weise zu schädigen, also was man Naturgesetz nennt, die Art und Weise, wie nach den bisherigen Erfahrungen die Bewegung und Entwicklung in der Natur sich vollzieht. Das sind bekannte oder unbekannte, jedenfalls aber vorhandene und unausweichliche Tatsachen, und wem würde es einfallen diese Gesetze der Schwerkraft oder des Magnetismus erst von einem Parlament mit Majorität votieren zu lassen, bevor man sie anerkennt.

Sie geben zu, das wäre ein Unsinn, aber zugleich verlangen Sie, dass Gesetze über andere Vorgänge und Erscheinungen votiert werden, die man ebenso wenig kontrolliert, wie die Nebengesetze, die sich ja einfach auch nach denselben vollziehen. Da man von diesen gesellschaftlichen Erscheinungen noch viel weniger weiss, als von einer Reihe durch mechanische Experimente ziemlich festgestellter Naturgesetze, so kommt bei diesen Gesetzen neben der Überflüssigkeit noch die Notwendigkeit des Irrtums, also die Sicherheit von Zwang und Unrecht dazu.


A. Werden nicht von der Majorität des Volkes auf Grund der besten wissenschaftlichen Erfahrungen durch direkte Volksabstimmung angenommene Gesetze etwas ganz anderes sein, als die jetzigen, wie ich zugebe, ungerechten und bedrückenden ?

B. Wir glauben das nicht. Eine schlechte Sache wird nicht zu einer guten, wenn sie noch so opportunistisch aufgepatzt wird. Ein Gesetz kann, im besten Fall, nur der Ausdruck der momentan besten Erfahrung der Majorität einer Gesamtheit sein. Ob richtig oder unrichtig, es ist einmal Gesetz geworden und wird, das liegt in der Natur des Gesetzes, mit Gewalt durchgeführt. Ob die Gewalt heute Gendarmen und Polizei, oder ob sie im "freien Volksstaat" Delegierte der öffentlichen Sicherheit mit roter Schärpe gebrauchen, ist für den Betroffenen gleichgültig. Ob sie im Namen eines Despoten oder in dem des "souveränen Volks" gebraucht wird, ist gleichgültig. Die Vergewaltigung bleibt sich gleich, nur ihre Formen und hier und da ihr Grad ändern sich, aber damit ist uns nicht gedient.


A. Schlechte Gesetze kann man aber doch abschaffen und durch bessere ersetzen.

B. Wenn das ein Trost sein soll, sind Sie sehr sehr genügsam. Warum nicht lieber von vornherein keine Gesetze machen. Die Erfahrung zeigt, wie leicht Gesetze gemacht, wie schwer sie abgeschafft werden. Es ist ferner durch die Erfahrung bestätigt, dass nicht die Majorität, sondern eine, oft kleine Minorität die Schlechtigkeit eines Gesetzes  zuerst fühlt. Welche Mittel hat sie denn unter Eurer Majoritätsherrschaft? - Warten, bis sie Majorität wird. - Das wird sie vielleicht nie, indem die Gesetze Eurer Majorität ihr die Agitation unmöglich machen können, trotz aller offiziellen Freiheit.

Die Geschichte sagt, dass die Minorität gewöhnlich anders vorgehen muss, indem sie einfach das Gesetz Übertrat oder ignorierte. Das kostete in vielen Fällen endlose Opfer, - die Majorität sah schliesslich, dass das Gesetz nicht mehr auszuführen war und gab es auf. Diese Methode, die der Fortschritt in der Geschichte anwendet, ist eben die von uns vertretene, anarchistische, die des Versuchs, seinen Ansichten entsprechend zu handeln.

Warum also immer und immer den Fortschritt der Willkür einer Majorität überliefern, anstatt den Dingen ihren freien Lauf zu lassen?


A. Das hiesse aber ja gerade der Gewalt Türen und Tore öffnen. Das Recht des Stärksten, das Faustrecht, Strassenraub wäre die Devise eines solchen Systems. Diese Zeiten sind längst überwunden. Der Satz: jeder ist gleich vor dem Gesetze, bricht sich immer mehr Bahn und wird in unserer freien Volksart, bei vorhandener ökonomischer Freiheit, zur vollen Geltung kommen.

B. Diese Ansichten zeigen, wie sehr ihr Sozialdemokraten in politischer Besiehung auf dem Boden des jetzigen Systems, der Demokratie steht. Gegenüber dem feudalen System der Ungleichheit durch Besitz und Geburt war der Satz: Jeder ist gleich vor dem Gesetz, ein historischer Fortschritt. Er ist die höchste Blüte, das grösste Ideal der Demokratie. Aber für uns, die wir uns von den schön klingenden demokratischen Phrasen befreit haben, ist dieser Satz ein Cynismus, die offene Sanktionierung beständiger Vergewaltigung.


A. Wie, Ihr erkennt nicht einmal an: Jeder ist gleich vor dem Gesetze. Das heisst ja, zu den alten verrotteten Zuständen zurückkehren; Ihr seid ja Aristokraten und Reaktionäre!

B. Sie können eben aus Ihrem demokratischen Gesichtskreis nicht heraus. Die früheren Zustände waren gesetzliche Ungleichheit, gesetzliche Unterdrückung des Einen auf Kosten des Andern. Die sind abgetan. Aber ist die vielgerühmte Gleichheit vor dem Gesetz etwas wesentlich besseres?

Das heisst doch einfach, es wird von Gesetzeswegen, d.h. mit Gewalt, alles über einen Kamm geschoren. Da ein Gesetz allgemein ist und es keine allgemeinen Menschen und allgemeine Fälle gibt, so wird jeder Einzelne in jedem einzelnen Falle vergewaltigt. Sucht man darin einen Trost, weil das ja alle trifft? Aber einen mehr, den anderen weniger, selten dem Verdienst des Falls entsprechend, oft aus ganz unkontrollierbaren Gründen. Und wirklich, wäre die Allgemeinheit der Versklavung ein Trost, eine Rechtfertigung dieses elenden Zustandes?


A. Aber die Gesetze haben ja eine gewisse Ausdehnungskraft und können den Umständen des Falls entsprechend, angewendet werden.

B. Damit sprechen Sie gerade den moralischen Bankrott der Gesetze ans. Aber Ihr Mittel hilft nichts, es führt einfach einen neuen Faktor der Willkür ein - die Anwendung der Gesetze wird der Willkür beliebiger dritter Personen überlassen. Das ist aber ebenso schlecht.

Aus diesem Fall geht der Unterschied unserer Ansichten in der schroffsten Weise hervor. Was euch, das Ideal der Gerechtigkeit zu sein scheint, ist für uns die Verkörperung der Ungerechtigkeit. Und dabei stellt Ihr Euch auf den Standpunkt der Wissenschaftlichkeit, der Entwicklung, der Evolution, dem doch die Demokratie schnurstracks zuwiderläuft. Die Demokratie - und in politischer Beziehung steht die Sozialdemokratie auf keinem andern Standpunkte - ist eben Fortschrittsschwindel, und nur im Kampf mit ihrer blinden und brutalen Majoritätsherrschaft kann sich jeder Fortschritt seinen Weg bahnen.

Wie viel Kräfte werden bei diesem Kampf verschwendet! Wie viel Keime der besten Entwicklung werden von der indolenten Majorität im Namen der Gesetze unterdrückt, wie viele kamen überhaupt nie ins Leben! Die Menschheit ist unter ihr eine Masse, die sich selbst den Gesetzen gegenüber für ohnmächtig hält, und selbst die gesetzmachende Majorität wird machtlos, wenn ihre Leitung in die Hände von Kliquen und Fraktionen kommt.

In der Anarchie dagegen wird sich jeder Keim und Trieb entwickeln können. Es wird und kann ja nicht alles, was geschehen wird, gleich wertvoll und nützlich sein, aber die Freiheit selbst ist das beste Korrektiv auch dessen, was man unter Missbrauch der Freiheit versteht.


A. Wie will sich aber die Gesellschaft gegen die schlechten Eigenschaften einzelner retten?

B. In dieser Hinsicht entdeckte schon Fourier ein richtiges Prinzip, nämlich...


A. Wie? Fourier, der alte Utopist, ist Ihre Quelle -

B. Ihr Sozialdemokraten, seitdem Engels den Satz: Von der Utopie zur Wissenschaft, nämlich in seiner eigenen Lehre, geläufig gemacht hat. Und ja auch früher, seid gewohnt, hochmütig auf alle andern herabzusehen. In unseren Augen gilt das, was ihr von anderen sagt, von eurem Marxismus, der uns utopisch und reaktionär erscheint.

Zunächst aber, Fourier betreffend: dessen Ausmalung idealer Phalansterien kümmert uns nicht; das und ebensolche Utopien, wie z.B. die Ansammlung idealer Arbeiterschutzgesetze, die ja jetzt Eure Hauptbeschäftigung in theoretischer Hinsicht ist -, nur das ersteres schöngedachte Utopien einer besseren Zukunft - und letzteres ziemlich reduzierte Utopien, der idealisierten Ausbeutung sind. - Doch davon später. - Fourier sah, und er war nicht ohne Vorläufer darin, dass es keine guten oder schlechten Triebe gibt, sondern dass jeder Trieb nur die Freiheit haben muss, sich in der ihm zusagenden Weise entwickeln, und dass dann das Gesamtresultat ein gutes sein werde. Jemand, der zu einer Sache gezwungen wird, thut sie mit Unlust und ungenügend, wahrend zugleich seine eigenen Anlagen verkümmern und meist Keime der Heuchelei, des Betrugs und der Herrschsucht seinerseits in ihm grossgezogen werden. Kurz, das freiwillige Zusammenarbeiten in freigewählter Thätigkeit allein ermöglicht dem Individuum die beste Anwendung seiner Fähigkeiten. Das ist eine ans guter Kenntnis der menschlichen Natur genommene Erfahrung, die von den "wissenschaftlichen" nicht berücksichtigt wird.

Für diese erfolgt die Regelung alles dieses von oben herab "durch die Gesellschaft", wie es so schön heisst, durch die herrschende Klique von Beamten und Autoritäten, wie es in Wirklichkeit nur sein kann.


A. Ich sehe zwar aus dem bis jetzt Besprochenen, dass Sie bestimmte Ansichten in diesen, sozusagen politischen Fragen haben. Aber ich vermisse die Begründung Ihres ökonomischen Standpunktes. Der wissenschaftliche Sozialismus hat die materialistische Geschichtsauffassung von Karl Marx adoptiert, der zufolge die ökonomischen Verhältnisse die Grundlage aller übrigen, politischen, religiösen etc., sind. Zunächst eine Frage. Wie stellen sich die Anarchisten zur materialistischen Geschichtsauffassung von Marx?

B. Wir verhalten uns zu allem, was Marx lehrte, ziemlich skeptisch, aber wir erkennen sie im allgemeinen an, ohne uns gerade Marx oder Engels dafür besonders dankbar zu fühlen, die wir in tausend Zungen als die Entdecker derselben preisen hören. Nach unserer Ansicht stand doch der erste Sozialist, der dem demokratischen Verherrlicher von Republik und politischer Freiheit sagte: O, rede mir von Freiheit nimmer - denn Armut, ach, ist Sklaverei," um mit P. Lachambeaudies bekannten Versen zu reden, - auf dem Boden dieser Geschichtsauffassung, und aller proletarische Sozialismus stand auf diesem Standpunkt. Marx wie eben Proudhon und Bakunin adoptierten ferner die alte Heraklitische und Hegelsche Erkenntnis, dass alles in Bewegung, Entwicklung begriffen ist, dass es nichts Permanentes, für immer Fixiertes gibt. Die beiden Anschauungen hat nun Marx in präziser Form zusammengefasst und damit gegen gewisse, ganz naiv idealistische, auf einem Moral- oder Gefühlsstandpunkt stehende Sozialisten Siege errungen. Die Anarchisten schöpfen nicht aus Marx, sondern aus denselben Quellen wie er, die allen zugänglich sind.

Marx handhabt diese materialistische Methode mit grosser Virtuosität, aber er und viel mehr noch Engels und seine Schüler geben darin manchmal zu weit. Wir meinen, diese Methode wird noch manche Einschränkungen erfahren müssen, bevor sie wirklich sicher wissenschaftlich angewendet werden kann. Zum Beispiel kann die Entstehung des Privateigentums durch sie nicht hinreichend, überzeugend erklärt werden. Drängte die Entwicklung der Produktionsmittel dazu oder die Entstehung der Einzelfamilie, die ihrer seits der nicht aus rein ökonomischen Gründen eintretende Beschränkung des Kreises des gesellschaftlichen Verkehrs zugeschrieben wird? Man hat einmal zu zeigen versucht, dass diese Geschichtsauffassung nur für eine Zeit materieller Not, eines harten Kampfes ums Dasein, eines Klassenkampfes, durchaus gilt, dass in einer Zeit materieller Sorglosigkeit die Produktionsverhältnisse einen nicht ausschlaggebenden, hinter anderen Eindrücken zurückstehenden Einfluss ausüben. Wäre das so, so liessen sich daraus viele die spätere Gesellschaft betreffende Schlüsse, die zugunsten unserer Anschauungen sein würden, ziehen.

Aber ich erwähne es nur, um zu zeigen, dass da noch lange nicht das letzte Wort gesprochen ist. Marx verfahrt noch immer wissenschaftlich genug. Aber die gewöhnlichen Marxisten sehen in dieser materialistischen Geschichtsauffassung ein unfehlbares Rezept, um über hundert verschiedene Gegenstände, von denen sie nicht mehr verstehen als andere, ein apodiktisches Urteil zu fällen. Sie nehmen sich einfach eine Kulturgeschichte und eine Statistik über den betreifenden Gegenstand her, um ihnen einige wirtschaftliche Daten zu entnehmen, aus denen sie dann, quer oder gerade, alles ableiten. Dazu die üblichen Schimpfereien auf alle andern, die sich wirklich mit dem Gegenstand beschäftigt haben, und eine neue Leistung des "wissenschaftlichen" Sozialismus ist fertig. Dann tritt der gegenseitige Reklameapparat in Kraft, und die schwierige Frage, an der die wirkliche Wissenschaft bis dahin scheiterte, ist - gelöst.


A. Stehen Sie auf dem Standpunkt des Klassenkampfes?

B. Dass es zwischen den Ausbeutern und Ausgebeuteten keine Transaktionen, keinen Frieden geben kann, ist selbstverständlich. - Wir teilen übrigens nicht eure Ansicht, dass die Arbeiterklasse erst die herrschende werden muss, um dann die Klassen aufzuheben, weil wir wissen: was einmal herrscht, herrscht weiter, befestigt die Herrschaft und denkt nicht daran sie aufzugeben. Viel eher würde diese herrschende Klasse die Rolle der Bourgeoisie weiter spielen und andere für sich arbeiten lassen. Aber wir eilen da voraus, und haben die ökonomischen Zustände unserer künftigen Gesellschaft noch nicht besprochen.


A. Ich halte eben ihre Ausführungen über die politische Seite der Frage, abgesehen von andern Einwänden, für unwissenschaftlich, weil Sie dieselben nicht ökonomisch begründet haben.

B. Was mich veranlasste, jenes zuerst zu besprechen, waren zwei Ursachen. Einmal halten wir nur einen Gesellschaftszustand für haltbar, entwicklungsfähig und anstrebungswert, in welchem die besprochene freie Entwicklung in jeder Weise garantiert ist. Daher musste ich Ihnen gegenüber, die Sie gewohnt sind, auf derartiges keine Rücksicht zu nehmen, die Sie sich mit einigen neuen ökonomischen Formeln begnügen und dann einfach mit dem alten demokratischen Staat weiter wirtschaften, diese Prinzipien entwickeln. Ihr Marxismus vernachlässigt eben all das, er steht darin auf dem gewöhnlichen demokratischen Boden, während doch ein neuer ökonomischer Zustand einen neuen polltischen Zustand erfordern wird. Sie glauben sich durch die materialistische Geschichtsauffassung gegen alles gefeit und blicken auf alles nicht ökonomische als Dinge zweiten Ranges herab. Und den ökonomischen Verhaltnissen selbst lassen Sie keine freie Entwicklung sondern unterwerfen Sie der Leitung durch obligatorische Weisheit.

Der andere Grund ist, dass es verschiedene Richtungen des Anarchismus gibt, die dieselben allgemeinen, besprochenen Grundsätze haben, aber jeder glaubt, in einem bestimmten ökonomischen Zustand dieselben am besten verwickelt zu sehen.


A. Da sind Sie also unter sich gespalten und wissen nicht, was sie wollen. Der wissenschaftliche Sozialismus steht dagegen wie ein erzgegossenes Ganzes da.

B. Wir beneiden Sie nicht um die chinesische Abgeschlossenheit des Marxismus, der, während alle andern weiter lernen, sich einbildet, das nicht mehr nötig zu haben und schon vor 50 und mehr Jahren abgeschlossen gewesen zu sein, als ob das Alter einer Theorie heute nicht eher eine Wahrscheinlichkeit ihrer teilweisen Unrichtigkeit als ihrer Richtigkeit gäbe, so schnell schreitet die Entwicklung vorwärts.

Auch ist ja ein wesentlicher Teil der Marxschen Lehren noch immer nicht bekannt; das wird gewöhnlich nicht gesagt, aber wenn Einwände gemacht werden, wird deren Lösung im so lange ausbleibenden dritten Band des "Kapital" in Aussicht gestellt. Manche merken diese Unvollständigkeit gar nicht, so wenig Kritik üben sie an den blind akzeptierten Lehren.


A. Welches sind die Richtungen des Anarchismus ?

B. Die individualistische oder mutualistische, die kollektivistische und die anarchistisch-sozialistische. Diese liegen in ihrer Entwicklung hintereinander, kommen aber heute noch nebeneinander vor. Die beiden ersten treten aber hinter dem anarchistischen Sozialismus immer mehr zurück.

Der Individualismus Josiah Warrens und anderer Amerikaner und der Mutualismus Proudhons sind die erste älteste Phase, gegenwärtig in Europa überwunden, in manchen Kreisen in Amerika, etwa auch in England und Australien noch verbreitet. Der kollektivistische Anarchismus war von 1868 bis 1876 die Hauptrichtung der Internationale, im Jura, Frankreich, Spanien, Italien, zum Teil Belgien, auch unter den ersten deutschen Anarchisten.

Der anarchistische Sozialismus, damals kommunistischer Anarchismus genannt, wurde zuerst auf dem Kongress von Florenz, Oktober 1876, von der italienischen Föderation der Internationale angenommen. Er trat überall, ausser in Spanien, an Stelle des kollektivistischen Anarchismus und ist die einzige Bewegung in den vielen seitdem eröffneten neuen Ländern. Auch in Spanien verbreitet er sich.


A. Was bedeutet für Sie die Bezeichnung: kollektivistisch? Wir Sozialdemokraten nennen uns doch Kollektivisten.

B. Die Priorität hierin gehört den Anarchisten. Als in der Internationale das Prinzip des Kollektiveigentums durchdrang - wobei die Marxisten zwar nicht hindernd auftraten, indem sie natürlich ihren Staatssozialismus vertraten, aber ganz hinter den Hauptvertretern dieses Fortschritts zurückstanden, frühen Mutualisten, die sich von der Unzulänglichkeit des Proudhonismus überzeugt hatten, wie de Paepe u.a., unterstützt von Bakunin, der immer Anhänger des slavischen Kommunismus war, d.h. der antiautoritären, föderalistischen, das Land kollektiv besitzenden Dorfkommune - damals also nannten sich die anarchistischen Anhänger des Kollektiveigentums einfach "revolutionäre Kollektivisten" (zuerst Ende der 60er Jahre in der Schweiz). Erst Mitte der 70er Jahre beschäftigten sich autoritäre Sozialisten (nicht Marxisten zuerst) des Wortes, das ihnen die Anarchisten schliesslich überliessen, worauf die Bezeichnung Anarchist schlechthin grössere Ausdehnung gewann.

Während man früher Kollektivbesitz der Produktionsmittel, aber individuellen Besitz des Arbeitsertrages wollte, begann man seit 1876 für Kollektivbesitz auch der Arbeitsprodukte einzutreten, und dies ist der kommunistische Anarchismus, der also in ökonomischer Beziehung auf dem Boden des freien Sozialismus steht.


A. Welche Garantieen haben Sie nun für die Richtigkeit dieser Ansichten. Denn wie schön sie theoretisch sein mögen, müssen sie doch praktisch begründet werden, und das vermisst man in der Regel bei diesen Systemen.

B. Wir würden sie schwerlich für richtig halten, wenn sie ihre praktische Begründung nicht in sich trügen. Indessen können Sie mit Recht unsere Beweise dafür fordern. Wir stellen an den von uns vertretenen Standpunkt des anarchistischen Sozialismus naturgemäss folgende zwei Forderungen:

1. Er muss die möglichst grosse Garantie der Ungestörtheit der freien Entwicklung bieten; es dürfen keine Tendenzen und Keime vorhanden sein, die, wenn weiter entwickelt, diese freie Entwicklung stören, ein autoritäres, staatliches Element in sie hineintragen würden.

2. Er muss aus dem jetzigen Zustand folgen, in der Richtung der Entwicklung der jetzigen Gesellschaft liegen, denn sonst wäre ihn anzustreben eine willkürliche, die Entwickelang zurück oder seitwärts treibende Utopie - ein aussichtsloses Streben.

Beide Forderungen erfüllt nach unserer Überzeugung der anarchistische Sozialismus.


A. Den zweiten Punkt muss ich ganz bestreiten, indem die Gesellschaft sich doch zum Kollektivismus hin entwickelt; daran kann gar kein Zweifel sein.

B. Nach unserer Ansicht begründete Zweifel. Aber ich will zuerst den ersten Punkt erledigen. Jeder produziert nach seinen Fähigkeiten und Kräften und konsumiert nach seinen Bedürfnissen; man könnte auch sagen, jeder produziert und konsumiert nach seinen Fähigkeiten und Kräften.


A. Warum verwerfen Sie das Prinzip des individuellen Arbeitsertrags für jeden?

B. Weil es das Prinzip der künstlichen, zwangsweisen Ungleichheit enthält, also diesen schlechten Keim enthält, der bald Neid, Streben. Herrschsucht etc. entwickelt, also die Gesellschaft auf den Weg der Reaktion treibt. Eine "gerechte" Feststellung des Arbeitsertrags ist nicht möglich; man kann nur immer ein bestimmtes künstliches Mittel verallgemeinen, und das erfordert zur Durchführung Autoritäten und Gesetze, und wie diese Eingang gefunden, ist es um Freiheit und Fortschritt geschehen.


A. Wenn aber jeder nimmt, was er will, wird das nicht Faulheit und Aufgeben jedes Eifers und Weiterstrebens herbeiführen müssen?

B. Wir könnten sagen, die Menschen würden dann besser, mehr solidarisch etc . sein, aber das hiesse der Frage ausweichen. Sie haben den gesetzlichen Arbeitszwang im Auge, und den verwerfen wir und sind bereit, die Folgen zu tragen. Es mag faule und egoistische Personen geben, in unserm System, wie in jedem andern. Etwas absolut Vollkommenes zu besitzen, behaupten wir ja nie. Aber wir sagen: solche Menschen werden in unserem Zustand weniger schaden als in jedem andern. Es kann niemand verhindert werden, seine Missstimmung ihnen gegenüber an den Tag zu legen, dass er nichts mit ihnen zu tun haben will, und die meisten werden, um die Vorteile des freundlichen Zusammenlebens mit andern zu geniessen - und dieses Zusammenleben wird ja ein viel näheres sein, als heute, wo jeder der Feind des andern, sein Konkurrent, ist - sich nicht durch antisoziale Eigenschaften aus deren Umgang verbannen. Würden Sie dies Zwang nennen? Für uns ist es die Revolte einer Majorität gegen die antisozialen Handlungen einer Minorität, etwas gerade so Berechtigtes, wie der umgekehrte Fall.

Der wesentliche Grund gegen den Arbeitszwang ist aber dieser. Sollen wir dieser Leute wegen Gesetze, Kerker, Gendarmen einführen? Thoren, die wir wären! Die unfehlbaren Folgen würden die sein: Kerker und Gendarmen würden bald nur für uns selbst da sein, und die Faulen, die Egoisten, die schlechten würden unsere Gesetzgeber, unsere Beamten, unsere Kerkermeister sein. Das wissen wir, es sind die verhängnisvollen Folgen der Autorität, und daher ziehen wir das geringere Übel, mit diesen Leuten so oder so in den einzelnen Fällen fertig zu werden, dem vor, uns dieser Leute wegen alle der Freiheit zu berauben, ja mit der Zeit in deren Hände zu geraten.


A. Ich bemerke noch, dass auch bei den bessern Leuten aller Eifer und Sporn zur Arbeit aufhören würde, wenn dieser Kommunismus eingeführt würde.

B. Diese Ansicht entspringt einmal einem Verkennen der menschlichen Natur, dann einer rein mechanischen Auffassung unseres Kommunismus. Nicht Arbeit ist ja unbedingt unangenehm, sondern Überarbeit und dazu das Bewusstsein der Ausbeutung, wie jetzt. In einem normalen Zustand ist Arbeit eine ebenso notwendige Muskeltätigkeit wie essen; beide fordern und ergänzen sich gegenseitig. Dazu muss die Arbeit, wie schon Fourier sagt, anziehend gemacht werden. Abwechslung darin, Zusammenarbeiten in freigebildeten Gruppen, aus Menschen, die sich unter einander nicht als Befehlende und Gehorchende, Gebildete und Ungebildete etc. hierarchisch getrennt fühlen, sondern sich als gleich nützlich zum Ganzen betrachten und dergl., werden die Arbeit so von dem, was sie jetzt ist, verschieden machen, das wir zum mindesten keinen Grund haben, etwas Schlechtes von diesem Zustand zu erwarten.

Ferner wäre es nur eine ins Blaue hinein gemachte Behauptung, heute zu versichern, wie weit sich der Kommunismus erstrecken wird. Ohne Zweifel auf alles zum Leben Unentbehrliche wie Häuser, Lebensmittel, Kleidung, Instrumente etc., aber darüber hinaus liegen weite Gebiete der persönlichen Ausbildung, persönlichen Vorliebe etc. Im Allgemeinen wird als Richtschnur dienen, dass Gegenstände von solcher Wichtigkeit und Notwendigkeit, dass deren Vorenthaltung, deren Monopolisierung, den Keim zu wirtschaftlicher Ungleichheit legt, allen zugängliches Gemeingut sein müssen; denn sonst wäre es um die Haltbarkeit des Zustandes geschehen.

Anders verhält es sich mit den wenigen, mehr individuellen Gegenständen; da werden manche hier, manche dort nicht in solcher Quantität produziert werden, dass sie jeder in der Weise findet, wie er sie braucht; er wird sie sich irgendwie verschaffen, und die vielen Variationen hierin bieten für die persönliche Tätigkeit der Einzelnen den grössten Spielraum, so dass jeder seine Individualität nach allen Seiten ausbilden kann.

Der Kommunismus wird sich als etwas so Selbstverständliches bald einleben, wie etwa heute die Benutzung öffentlicher Anlagen und Anstalten. Das Reisen auf Eisenbahnen gegenüber den Maut- und Zollschranken auf Schritt und Tritt bei Reisen früherer Zeit etc. Ich meine, man gewöhnt sich sehr schnell ein neues Bedürfnis an, betrachtet es bald als selbstverständlich, während man, bevor man es hatte, es sich kaum vorstellen konnte. Auf diese rapide Steigerung der Bedürfnisse rechnen wir zu Gunsten des Kommunismus; davon später.


A. Ein solcher Zustand, wie Sie ihn wünschen, mag ja das höchste Ideal sein, aber es kann nicht "sofort" eintreten; halten Sie nicht einen Übergangszustand für notwendig?

B. Wir wissen wohl, dass viele Nicht-Anarchisten gelegentlich den von uns erstrebten Zustand als letztes Ideal gelten lassen und dies sogar offen aussprechen. Freilich geschieht so etwas nie in Deutschland. Hier wird von den Führern der Sozialdemokratie von jeher dafür gesorgt, dass die Arbeiter die denkbar flacheste Vorstellung vom Anarchismus bekommen.

Uns gelten übrigens diese platonischen Zustimmungen nichts. Wir sind Anarchisten, nicht weil es einem sehr "schön gedachten Zustande" gilt, wie Sie glauben; man könnte wohl noch einen viel schöneren "erdenken" - sondern weil wir ihn für unmittelbar praktisch, für den einzig praktischen Zustand halten.


A. Wodurch begründen Sie das?

B. Aus der Richtung der Entwicklung der Gesellschaft - einem später zu besprechenden Punkt. Und dadurch, dass kein Übergangszustand, den andere anstreben, uns ein Gewinn, eine Garantie für den Anarchismus erscheint, eher das Gegenteil.


A. Aber z.B. das Prinzip des persönlichen Arbeitsertrages wäre doch als Übergangszustand ein grosser Fortschritt.

B. Es wird Ihnen bekannt sein, dass Marx in seiner Kritik des Gothaer Programms (Neue Zeit, I X , I, Heft 18, S. 566, 567) sich über diese Frage weitläufiger ausgesprochen hat, als es seinen gegenwärtigen Anhängern opportun zu sein scheint. Die pflegen meist solchen Erörterungen aus dem Wege zu gehen oder sie mit Grobheit abzufertigen. Marx erwartet also zunächst einen Zustand des mit den verschiedenen gesellschaftlichen Abzügen persönlichen Arbeitsertrages. Er selbst hebt hervor, dass man in demselben auf dem Boden des "engen bürgerlichen Rechtshorizonts" stehe, S. 567, dass die Verteilung ungleich sei, dem einen zugute komme, dem andern nicht etc. Er spricht sogar den sonst in seinen Ansichten nicht berücksichtigten Satz aus: "Es ist daher ein Recht der Ungleichheit, seinem Inhalt nach, wie jedes Recht", d.h. er erkennt die Ungerechtigkeit des "gleichen Rechts für alle" an. Uns ist es unbegreiflich, wie er nach dieser Schilderung eines solchen Zustandes dann mit ein paar unvermittelten Sätzen den Kommunismus sich herausentwickeln lässt aus diesem auf dem bürgerlichen Rechtsstandpunkt stehenden System. Nachdem er die künstliche, juristische Ungleichheit als Basis dieses Zustandes konstatiert hat, und dies mit Recht, wäre es logisch gewesen, die Konsequenzen dieser Ungleichheit zu ziehen, d.h. zu folgern, dass sich immer grössere Ungleichheit, damit verschieden grosse ökonomische Macht der einzelnen, daraus eine neue Spaltung in Klassen, kurz ein Zustand neuer Ausbeutung entwickeln würde. Statt dessen erwartet er von einem solchen Zustand alles das, was wir als die Folgen des wirklichen Kommunismus ansehen; für ihn sind das die Ursachen zum Kommunismus, die sich in dieser diametral antikommunistischen Gesellschaft des individuellen Arbeitsertrages bilden sollen.


A. Auf jeden Fall darf nicht ein Sprung aus einer Gesellschaftsform in die andere stattfinden.

B. Das ist eine beliebte Phrase, die eigentlich gar nichts beweist. Nebenbei gesagt, wäre der "Sprung" aus einer Gesellschaft wie die von Marx zunächst vorausgesetzte, in der jeder nach dem neuen Lohesystem, das noch auf dem "engen bürgerlichen Rechtshorizont" steht (S. 367), verschieden viel zu verdienen imstande ist, indem also alle individualistischen, egoistischen, antisozialen Triebe volle Entwicklung finden, zum Kommunismus grösser als der aus der jetzigen Gesellschaft zum Kommunismus.

Aber wir verwerfen dies Argument der "Sprünge" überhaupt, weil es ein ganz willkürliches ist, das jeder gegen den andern ausspielen kann. Niemand hat, um sich so auszudrücken, den Massstab der Weltgeschichte in der Tasche, und wer sich doch so gebärdet und axionsmässig sagt: das ist ein Sprung - das ist keiner, zeigt nur seine Ignoranz. Das ganze Gerede von Evolution und Revolution beruht darauf. Wer weiss, was das eine und was das andere ist? Dazu kommt noch die Phrase von der "friedlichen Revolution" als dritte, jetzt sehr beliebte, weil sie gefährlich und kühn ausschaut und doch harmlos und gefahrlos ist.

Tatsächlich geht die Entwicklung ihren Weg wie ein Fluss, der dieses Hindernis umgeht, jenes beseitigt, alles den auf beiden Seiten angesammelten Kräften entsprechend. Was da dem Bewohner der Ebene schon als Wasserfall imponiert, ist für den Gebirgsbewohner die gewöhnliche Form eines Bergstroms u. dergl. So ist es mit Evolution und Revolution, es sind rein subjektive Begriffe, unter denen keine zwei Menschen das Gleiche verstehen weil jeder einen verschiedenen Maasstab anlegt.

Ebenso der "Sprung in der Geschichte" - den gibt es freilich nicht, weil es nur Ursachen und mit mechanischer Notwendigkeit daraus sich ergebende Folgen gibt; da wir die Ursachen nur unvollständig kennen, so ergeben sich oft für uns überraschende, anscheinend plötzliche Folgen. Diese nennt einer "Sprung", der andere "Revolution" n. dergl., aber sie sind von den gewöhnlichen Ereignissen nicht in ihrem Wesen verschieden.


A. Worauf stützen Sie Ihren Glauben, dass sich die Menschen unvermittelt in den Kommunismus werden hineinleben können?

B. Wir erwarten als erste Folge des Kommunismus  eine allgemeine  Steigerung der Bedürfnisse; während Ihr Sozialdemokraten, wie Marx sagt, zufolge dem "engen bürgerlichen Rechtshorizont", nach der Umwälzung fortfahren werdet, sofort alles nach Elle und Kreuzer jedem zuzumessen, was er in Arbeitsstunden verdient hat, also einfach ein neues Lohnsystem einführt. Da wird das Volk bald denken, es sei vom Regen in die Traufe gekommen, das seien nicht die Folgen der Änderung, die es erwartete; schliesslich wird man sich das neue Lohnsystem im individualistischen Sinne zurechtlegen, jeder wird streben, mehr als der andere zu bekommen, und man eilt mit vollen Segeln den alten Zustanden wieder zu.

Bei sofortigem Kommunismus aber sieht jeder den enormen Unterschied, eine grosse Reihe neuer Bedürfnisse wird ebenso selbstverständlich werden wie jetzt Luft, Licht und Wasser, die Benutzung der Strassen etc., sodann Wohnung, Nahrung, Kleidung. Hat man diese Vorteile einmal kennen gelernt, wird man nicht mehr zu einem System von Lohnarbeit in irgend welcher Form zurückkehren wollen.


A. Das würde aber zu einer ungeheuren Verschwendung von Produkten führen.

B. Und wenn so, was wäre daran gelegen, wenn es den Erfolg der Umwälzung sichert? Sieht - wie ihr es wollt - der Proletarier, der heute die alten Besitzverhältnisse ändern half, morgen vor den Reichtümern der Gesellschaft neue Wächter stehen, an Stelle von Militär und Polizei seine früheren Führer, die jetzt die Herren sind, so wird und kann die Reaktion nicht ausbleiben.

Ich wiederhole, es gilt, mit allen Mitteln und mit welchen Kosten immer dem Volk das Recht aller auf alles so schnell als möglich zum vollsten Bewusstsein zu bringen, und das geschieht durch die Wirklichkeit besser als durch Worte, durch 24 Stunden dieses Zustandes mehr als durch Jahre der Propaganda.


A. Indem wir diesen Gegenstand verlassen - worauf stützen Sie nun Ihre Behauptung, dass sich die jetzige Gesellschaft im Sinne des Anarchismus hin entwickelt. Wir wissenschaftlichen Sozialisten denken, es könne doch kein Zweifel daran bestehen, dass die Konzentration des Kapitals in immer weniger Händen und die immer mehr Zentralisation erfordernde Entwicklung der Produktion dahin führen, dass eines Tages die Gesellschaft die zentralisierte Leitung der universellen, internationalen Produktion übernimmt.

B. In dieser Frage sind die Anarchisten vollständig anderer Ansicht. Wir sind uns bewusst, dass dies einer der wichtigsten Punkte, eigentlich der Hauptpunkt ist, um den sich die Begründung unserer Ansicht dreht. Geht die Entwicklung der Gesellschaft in der Richtung der Zentralisation, dann ist der Staatssozialismus unvermeidlich - wenigstens so lange, bis er abgewirtschaftet hat und durch einen Zustand wie den jetzigen ersetzt wird. Geht die Entwicklung aber in der Richtung zur Dezentralisation, dann ist der Anarchismus ebenso unvermeidlich - und wir glauben bestimmt, letzteres auch beweisen zu können.


A. Der Anarchismus sucht also die Basis selbst des wissenschaftlichen Sozialismus zu erschüttern und sich auf eine neue wissenschaftliche Grundlage zu stellen.

B. Unsere Beweisführung ist nicht neu, und wir wären ja gedankenlose Idealisten, wenn wir sie nicht kennen und uns auf sie stützen würden. Ich könnte sie durch viele Beispiele und Zahlen unterstützen - aber ich verweise Sie dafür auf die beiden Werke Peter Kropotkins "Der Wohlstand für Alle" und "Landwirtschaft, Industrie und Handwerk", in welchen diese Frage in Bezug auf Industrie und Ackerbau erörtert wird.

Ich beschränke mich auf unsern allgemeinen Gedankengang und will dabei auch die gegenteiligen Ansichten des Marxismus beleuchten. Wir sehen in der Tat auf den ersten Blick grosse Konzentration der Produktionsmittel. Diese ist aber nur teilweise erfordert durch die Technik der Produktion selbst; der andere Faktor dabei ist der Privatbesitz des Kapitals und dessen Folge, die Konkurrenz, die schliesslich direkt oder durch Ringe, Kartelle indirekt zum Monopol führt. Da liegt längst nicht mehr der Kampf verschieden wertiger, immer grösserer Maschinen, also etwas Technisches, Unvermeidbares, vor, sondern der Kampf der Kapitale untereinander, und dieser wird ja wegfallen mit dem Fall des Privatkapitals. Jetzt ist es einem oder einer Reihe von Kapitalisten möglich, durch ihr Kapital in einer ganzen Gegend alles wirtschaftliche Leben zu töten, d.h. alles in ihren Händen zu konzentrieren, - diesen Einfluss des Kapitals verwechselt man zu leicht mit der Wirkung der modernen Technik. Kriege mit Waffen oder mit Zollverträgen. Spekulation und Krisen, Kartelle und Monopole fährt das Kapital mit seiner ungeheuren Ausnutzung des Kredits und anderen Hilfsmitteln herbei, aber nicht direkt die Technik der Produktion.

Müssen wir also von der vorhandenen Konzentration schon einen grossen Teil von der Rechnung der uns allein massgebenden Erforderungen der Technik der Produktion abziehen, so erhalten wir noch ganz andere Resultate, wenn wir die räumliche Verbreitung der Produktion von heute mit der vor 30 oder 50 Jahren vergleichen.

Was wir da sehen, ist die immer steigende Entwicklung der Industrie in immer mehr Ländern und Gegenden. Das frühere Monopol Englands ist zerstört ; Frankreich, Deutschland entwickeln sich lokal und sind jetzt von England unabhängig, sie machen ihm auf den auswärtigen Märkten wichtige Konkurrenz. In einem Lande, das man so lange für einen reinen Agrikulturstaat hielt, wie Russland, entwickelt sich die Industrie rapid, wofür gerade die russischen Marxisten viel Beweise zusammenstellten, vgl. z.B. Plechanows "Nos Controverses" (1885) und Krapotkins Zahlen bestätigen es. Zuerst beherrscht Polen den russischen Markt, aber hinter der polnischen Industrie erhebt sich eine solche im eigentlichen Russland u.s.w. Kurz: fast jedes Land, jede Gegend wird in industrieller Beziehung immer mehr von der anderen unabhängig, und das alles trotz der Macht des Kapitals, der Konkurrenz, die, den Vorsprung, den sie hat, benutzend, und ihr altes Monopol verteidigend, diese neuen Industrien anfangs mit überlegenen Kräften bekämpfte.

Diese Tendenz der Dezentralisation der Produktion, untrennbar verbunden mit der fortschreitenden Ausdehnung der Zivilisation, ist es, die uns die wirtschaftliche Überflüssigkeit, Nutzlosigkeit und daher auch die Entwicklungsfeindlichkeit, Unmöglichkeit der Zentralisation zeigt.

Ihr gegenüber erscheint uns der Glaube der Marxisten an eine internationale oder auch nur nationale Zentralisation der Produktion eine ebenso reaktionäre, d.h. dem Gang der Entwicklung entgegengesetzte Utopie, wie z.B. die der christlich-sozialen Reaktionäre, die das Handwerk, die Zünfte, die ständische Gliederung der Gesellschaft wieder emporzubringen streben.


A. Da würde aber alles auf Zwergbetriebe reduziert sein; das ist ja ein ganz kleinbürgerlicher Standpunkt.

B. Davon ist keine Bede. Niemand verwirft den Fortschritt der modernen Technik. Aber was wir verwerfen, ist die bureaukratische Zentralisation der Produktion, die Ihr anstrebt, eigentlich die Unterwerfung der Technik unter die Bureaukratie, wie sie heute dem Kapital unterworfen ist. Sie soll einmal den Menschen selbst zugute kommen, nicht einer neuen Klique neuer Herren. - Die Sache liegt, es sei noch einmal wiederholt, so: die Technik der Produktion erfordert die Zentralisation nicht, also ist kein Grund für sie vorhanden.

Wenn der Marxismus die Zentralisation erfordert - wen geht das etwas an? Wird die Logik der Tatsachen, der natürliche Gang der Entwicklung siegen oder eine veraltete Doktrin?


A. Sie nennen den modernen wissenschaftlichen Sozialismus eine "veraltete Doktrin"?

B. In dieser seiner theoretischen Begründung wird man ihn so nennen müssen. Marx und Engels sahen in den vierziger Jahren die industrielle Entwicklung im westlichen Deutschland, England und Belgien und bildeten sich danach ihre Ansichten, die ja, wie sie Anfang 1848 im kommunistischen Manifest ausgesprochen sind, noch heute in allen wesentlichen Punkten die der Marxisten sind.

Damals konnte man, von Englands Welthandelsmonopol ausgehend, zu ihren zentralistischen Folgerungen gelangen. Seitdem aber vollzogen sich die enormen Fortschritte der Dezentralisation, der Lokalisierung der Produktion.

Wie sie in ihren politischen Anschauungen über die Demokratie nicht hinauskamen - wir besprachen dies vorher und werden es bei Erörterung der Taktik und Mittel bestätigt finden -, so kamen sie in ihren Ansichten über den Gang der Entwicklung über die der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts nicht hinaus.

Es gibt noch andere Punkte, in denen der "wissenschaftliche" Sozialismus längst überholt wurde, so ist z.B. die Richtigkeit der Marxschen Werttheorie recht zweifelhaft geworden.


A. Bevor wir die von Ihnen behauptete Dezentralisation weiter besprechen - welche Einwände haben die Anarchisten gegen die Marxsche Werttheorie?

B. Als Anarchisten haben wir diese Werttheorie nicht zu betrachten, da sie ja das Wertgesetz der kapitalistischen Produktionsweise sein will und auf eine Gesellschaft ohne Warenproduktion sich nicht bezieht. Es ist eine selbständig zu studierende Frage, die nur eben nicht im Entferntesten so abgeschlossen ist, wie die Marxisten behaupten.

Ich persönlich bin nicht in der Lage gewesen, das von den Gegnern vorgebrachte Material vollständig zu prüfen, aber was ich davon kenne, veranlasst mich zum mindesten, die Frage als eine durchaus offene, keineswegs von Marx entschiedene zu betrachten.


A. Wer sind diese Gegner? Vulgärökonomen, Apologeten der Bourgeoisie...

B. So pflegt ihr in der Tat alle Nicht-Marxisten zu nennen. Wir Anarchisten können zu viele Fälle handgreiflich nachweisen, in denen wir von Marxisten verleumdet wurden, als dass deren wegwerfende Kritik und Schimpfnamen für Andersdenkende uns an und für sieb, ohne weitere Beweise, Glauben erregen würden. Die wirklichen Vulgärökonomen sind uns ebenso verhasst wie jenen, aber wir halten uns nicht jede wissenschaftliche Forschung vom Leibe durch Schimpf und Verdächtigung, wie sie es zu tun pflegen.

Um zur Werttheorie zurückzukehren: für Ricardo und andere bestimmt die in einer Sache steckende Arbeit den Wert derselben, die zu ihrer Produktion notwendige Arbeitszeit. Marx tat den so oft gepriesenen Riesenschritt vorwärts, indem er sagte: nicht die Arbeitszeit, die gerade diese Sache selbst kostet, sondern die zu ihrer Herstellung gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit. Deutlicher ausgedrückt ist das so: nicht die wirkliche Arbeitszeit (indem z.B. ein Arbeiter 2, ein anderer 4 Stunden zu derselben Sache braucht, ohne dass die vierstündige dadurch den doppelten Wert erhält), sondern die Durchschnittsarbeitszeit (z.B. 3 Stunden) bestimmte den Wert. Marx hatte sich da ohne Zweifel korrekter und präziser ausgedrückt als seine Vorgänger.

Er steht also auf dem Prinzip der Arbeitszeit als alleinigem Wertmass. Demgegenüber sind, unabhängig voneinander, eine Reihe Nationalökonomen, die sich in ihrer Methode von den sogenannten Vulgärökonomen stark unterscheiden, zu der Ansicht gekommen, dass nicht die Arbeitszeit allein, sondern die Quantität und andere Verhältnisse zur Bildung des Wertes wesentlich mitwirken, dass also der Ricardo-Marxsche Standpunkt ein ganz einseitiger, unhaltbarer sei.

Soweit die Marxisten mit ihnen polemisieren und nicht nur schimpfen, behaupten sie: in Marx' Ausdruck "gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit" sei das alles schon enthalten. Sie machen mir da den Eindruck jener Pfaffen, die, um nichts von ihrer Bibel aufzugeben, in dieselbe alle modernen wissenschaftlichen Ergebnisse hineinlegen, z.B. die geologischen Perioden in das Schöpfungsmärchen, wie es in England nicht selten geschieht.

Wir können diese Frage nicht ausführlicher besprechen, ich möchte auf eine Stelle in Marx' Kritik des Gothaer Programms aufmerksam machen, in der er von der ersten Periode seiner Zukunftsgesellschaft spricht; da heisst es (Neue Zeit IX I, S. 566): "er (der Produzent) erhält von der Gesellschaft einen Schein, dass er so und so viel Arbeit ('individuelle Arbeitsstunden') geliefert (nach Abzug seiner Arbeit für die gemeinschaftlichen Fonds), und zieht mit diesem Schein aus dem gesellschaftlichen Vorrat an Konsumtionsmitteln so viel heraus, als gleichviel Arbeit kostet. Dasselbe Quantum Arbeit, das er der Gesellschaft in einer Form gegeben hat, erhält er in der anderen zurück."

Ich finde nicht, dass Marx darin die Quantität und Nützlichkeit der Produkte berücksichtigt, die, wie man behauptet, von ihm berücksichtigt werden. Die Marxisten geben eigentlich der Richtung dadurch selbst Recht, dass sie sich krampfhaft bemühen, sie schon bei Marx selbst zu entdecken. Es ist deutschen Sozialisten wohl weniger bekannt, dass in England auch von Sozialdemokraten die Marxsche Werttheorie nur vereinzelt adoptiert wird, vielfach dagegen die dort von Stanley, Jerons, Wicksteed etc. vertretene Richtung. Diese Richtung, konsequent ausgebildet, gibt an Stelle des Marxistischen Mehrwertdiebstahls durch die Kapitalisten eine andere Erklärung der Ausbeutung, und es sind weitere Konsequenzen aus ihr gezogen worden, die direkt den Kommunismus begründen und jedes Arbeitsertrag- oder Lohn - System als absurd erscheinen lassen. Wir glauben demzufolge uns zur Marxschen Werttheorie absolut skeptisch uns verhalten zu müssen.


A. Aber der Marxsche wissenschaftliche Sozialismus beruht ja nicht auf der Werttheorie, wird also durch deren Fall nicht erschüttert.

B. Das ist ja bekannt und oft, z.B. von Engels, konstatiert worden. Aber in der praktischen Agitation wird nichtsdestoweniger die Werttheorie als Dogma ausgegeben und erst Angriffen gegenüber wirft man sie über Bord.


A. Kehren wir zur Frage der Dezentralisation zurück. Sie haben nur von der Industrie gesprochen, aber wie ist es mit dem Ackerbau, daran scheitert Ihre Theorie, denke ich; dieselbe ist etwas Natürliches, nicht etwas Künstliches wie die Industrie.

B. Im Gegenteil, der Ackerbau wird unsere Ansichten bestätigen. Er ist in der Entwicklung hinter der der Industrie zurück, bewegt sich aber in derselben Richtung. Die Perioden der Entwicklung beider sind: frühere Dezentralisation - Periode des Handwerks, des kleinen Ackerbaues, Mittelalter; Zentralisation - indem die Fortschritte der Technik, Manufaktur, Maschinen, Grossbetrieb, Ackerbau im Grossen, sich in bestimmten Gegenden zuerst entwickeln, die dadurch ein Monopol erlangen; Neuzeit, bis Mitte des Jahrhunderts, kommende Dezentralisation-Periode, in der diese technischen Fortschritte, Maschinen etc. sich ebenso verallgemeinern, wie früher das Handwerk: die Gegenwart und noch mehr die Zukunft.

Wie man bei oberflächlicher Betrachtung der Industrie nur deren Zentralisation zu sehen glaubt, denkt man bei Betrachtung des Grussbetriebs des Ackerbaues in Amerika, neben dem Indien, Russland, Australien etc. stehen, nur an augenscheinlich dieselbe Zentralisation. Man sieht, wie eine Zeit lang die Agrikultur sich immer ausdehnte, neues Land an sich zog und durch Grossbetrieb, Maschinenanwendung etc. deren mit veralteten Instrumenten betriebenen dezentralisierten alten Ackerbau der Bauern erfolgreiche Konkurrenz machte.

Aber diese neue Art der Agrikultur hat ihre beschränkte Zeit und wird ihre Grenzen finden. Der Boden auch der grössten Länder wird, zumal bei der Zunahme der Bevölkerung, erschöpft, und in ihnen werden ähnliche Zustände eintreten wie jetzt schon in England. Je schneller sich der Grossbetrieb da entwickelt, desto schneller wird die natürliche Fruchtbarkeit des Bodens erschöpft durch den kapitalistischen Raubbau, und die natürliche Fruchtbarkeit wird überall das schon in einzelnen Ländern existierende geringe Niveau erreicht haben.

Dann wird das überall stattfinden müssen, was jetzt im Kleinen schon vielfach versucht wurde, durch künstliche chemische Mittel und genauere Pflege dem Boden das zu entziehen, was man erst in ihn hineingelegt hat, und auf die erschöpfte natürliche Fruchtbarkeit des Bodens nicht mehr zu reflektieren. Man drückte dies kurz so aus: der Ackerbau wird aus einer extraktiven (d.h. dem Boden nur entziehenden, wie man z.B. Kohlen nur findet, nicht macht) zu einer produktiven (d.h. aus so und so viel Rohstoffen ein bestimmtes Quantum Produkte herstellenden) Tätigkeit werden.


A. Was sind das für Versuche, die Sie da erwähnten?

B. Es sind die Versuche und Erfolge der sogenannten intensiven Kultur. Durch chemische Düngstoffe, künstliche Wärme, grössere Pflege etc. hat man auf einem kleinen Terrain das produziert, was unter gewöhnlichen Umständen einen vielfach grösseren Raum erfordert hätte. Dabei waren die Kosten grösser, aber der Ertrag noch grösser, also das Gesamtergebnis ein günstigeres als bei der gewöhnlichen Kultur. Man kann sich eine Vorstellung davon machen, wenn man z.B. den Gemüsebau mit dem Getreidebau vergleicht, wie viel da auf einem kleinen Raum produziert wird; man hat oft die Umgebung von Paris, in der dies der Fall ist, z.B. mit der von London verglichen, dem dieselben Naturprodukte, die die Umgebung von Paris reichlich produziert, dank der intensiven Kultur, von weither zugeführt werden müssen u.s.w. Der zukünftige Zustand, zu dem hin sich die Entwicklung des Ackerbaues bewegt, ist sozusagen seine Verwandlung in eine Art Industrie, durch die intensive Kultur, und damit seine immer grössere Unabhängigkeit von den lokalen Verhältnissen, seine Dezentralisation. Wie man überall alles mit Maschinen herstellen kann, wird man auch mehr oder weniger alles mit den entsprechenden technischen Hilfsmitteln aus dem Boden gewinnen können.

Noch andere Faktoren wirken in dieser Richtung der Dezentralisation. Z.B. die Kohlen, die einem Lande einen enormen industriellen Vorsprung über ein kohlenloses Land geben, erschöpfen sich wie die natürliche Fruchtbarkeit des Bodens. So wird das natürliche Monopol der Kohlengegenden zerstört. Der Erfindungsgeist der Menschheit wird Ersatz finden, man wird die in so vielfacher Form vorhandene Elektrizität zur Wärmegewinnung benutzen, wie es schon jetzt teilweise geschiebt. Das wirkt wieder dezentralisierend u.s.w. Ferner werden überhaupt, nachdem die Ausdehnung der Maschinen der Grösse nach doch eine Grenze hat, sich Erfindungen mehr damit beschäftigen, die schon vorhandenen grossen Maschinen intensiver arbeiten zu lassen, also wieder der Zentralisation entgegenarbeiten etc.


A. Was wird aber aus dem Welthandel, dem Austausch von Produkten? Bei eurem System des Gruppeneigentums würde dieser Austausch wieder zur Warenproduktion führen, mithin den Kapitalismus früher oder später wiederherstellen. Die Gruppen würden sich als Konkurrenten gegenüberstehen, Monopole entstehen und dgl.

B. Das ist ein oft gemachter Einwand, und er gehört zu denen, die am schärfsten erwogen werden müssen. Für Jemanden, der die eben besprochene dezentralistische Entwicklang nicht in Rechnung zieht, ist er kaum zu widerlegen. Man kann wohl versichern, die Gruppen werden sich nicht Konkurrenz machen, die Solidarität wird grösser sein als der Egoismus, und die Konkurrenz selbst werde das Monopol verhindern (was sie doch gegenwärtig nicht tut) - und dieser Zwang der Konkurrenz würde auch die Freiheit der Gruppen vernichten, indem sie zu einem sich filierenden Marktpreis liefern müssten, einerlei, ob sie unter günstigen oder ungünstigen Verhältnissen produzieren, aber all das kann einen Gegner nicht überzeugen.


A. Geben Sie also zu, dass hier der Anarchismus Unrecht hat?

B. Durchaus nicht. Nur, dass sich dieser Einwand nicht mit einem einfachen Hinweis auf die Solidarität beseitigen lässt. Wir sehen aber ein wirksames, ausschlaggebendes Argument dagegen in dem Hinweis auf die Dezentralisation der Produktion. Diese macht eine Gegend von der andern wirtschaftlich unabhängig. Die lokalen Gruppen werden unter sich eine Art des Einvernehmens finden, sich gegenseitig die Befriedigung ihres Bedarfs garantierend. Weiterreichender Austausch wird in geringerem Massstab, und zwar besonders gering bei den notwendigen Lebensgegenständen stattfinden, weil fast alles lokal produziert werden wird.

Güter mehr persönlicher Natur werden in vielen Fällen nicht überall produziert werden, und man wird sich auf dem Wege des Austausches verschaffen. Die schädlichen Folgen der Warenproduktion werden also durch die Aufhebung derselben, die wir ökonomisch begründet haben, beseitigt werden.

Und noch ein Grund liegt vor. Wie würden sich diese Vorgänge im sozialdemokratischen Staat gestalten?


A. Da würde die Produktion gesellschaftlich geregelt werden; der Gesamtbedarf würde statistisch festgestellt werden, und die Arbeitervereinigungen, denen die Produktionsmittel überlassen würden, würden so und so viel Produkte zu liefern haben, die dann in staatlicher Verwaltung zur Verteilung an die Produzenten gelangen.

B. Dieses System scheint uns bei weitem grössere Nachteile zu enthalten als die paar Splitter, die man in unseren Ideen so häufig sucht. Es würde der Dezentralisation entgegenarbeiten, also einen künstlichen Stillstand und Rückgang herbeizuführen suchen, was nur zwangsweise geschehen kann. Die Leitung der Industrie und damit die absolute Herrschaft über alle würde in die Hände der Beamtenkliquen gelangen, - darüber haben wir eingangs gesprochen. Die lokale Initiative und lokale Entwicklung würden zerstört und so dem einzelnen jedes Interesse an der Entwicklung der Produktion genommen werden.

Das Arbeitsquantum wird ja von fremden Leuten, den grossen Herren im Zentrum, vorgeschrieben, das Produkt wird weggenommen und vielleicht an das andere Ende des Landes transportiert, ohne dass es einen Einspruch gäbe. Der einzelne sieht sich als willenloses Rad einer Maschine, in deren Zentrum er die grosse Klique der Leiter der Produktion sieht, die durch das Netz der von ihnen begünstigten Kreaturen ihren Einfluss auf alles und jedes ausdehnen.

Ebenso wie wir Anarchisten es verwerfen, Kerker zu bauen, um den Arbeitszwang durchzuführen, weil wir wissen, dass wir sie nur für uns bauen und dass die eigentlichen schlechten Menschen als Gesetzgeber und Kerkermeister über uns triumphieren würden, somit die Leitung der Produktion. Diese würde den schlechten Elementen zufallen, die sich überall an die Spitze drängen, und auch Bessere würde ja die Autorität bald korrumpieren. Ihre Herrschaft würden sie durch Willkür verstärken und dauernd machen.


A. Würde das von den Anarchisten vertretene System der Dezentralisation sofort nach einer eingetretenen Umwälzung ins Leben treten?

B. Ja, denn dafür liegt die vollste Notwendigkeit vor, wenn die Gesellschaft weiter funktionieren soll. Auch hierin liegt ein Argument für uns und gegen den zentralistischen Staatssozialismus. Nämlich folgendes.

Durch die politische Umwälzung bricht das künstliche Gebände des Welthandels über Nacht zusammen. Ist sie nur lokal, so werden die Kapitalisten anderer Länder sich in jeder Weise von diesem Lande zurückziehen, alle Sendungen werden ausbleiben, sie werden versuchen, es auszuhungern etc.

Und ist sie international, wird es nicht viel anders sein. Wie oft wurde nicht hervorgehoben, dass die hungernden Arbeiter und Bauern, denen heute die Produkte weggenommen werden, während sie selbst nichts für sich behalten dürfen, es sich nach der Umgestaltung gar nicht einfallen lassen werden, das weiterbin freiwillig zu tun und den Weltmarkt zu beschicken".

Sie werden auch keine 12 Stunden mehr arbeiten, um mehr zu produzieren und das wegzuschicken. Mit diesen Tatsachen wird man nun rechnen müssen.

Wollten zu denen am Tage nach der Befreiung sozialdemokratische statistische Kommissäre kommen und ihnen im Namen der Gesellschaft vorschreiben, alles mögliche sofort für den Export etc. zu produzieren und in die Produktenzentren abzuliefern, so würden sie wahrscheinlich diese Herren den Weg schicken, den die Kapitalisten Tags zuvor gegangen sind, und sie hätten guten Grund dazu, denn um nur die Herren zu wechseln, hätten sie sich nicht befreien brauchen.

Es wird also nach der Befreiung jede Gegend mehr oder weniger ganz auf sich selbst angewiesen sein und die Produktion selbst organisieren müssen. Dies wird die Dezentralisation wieder enorm fördern, dieselbe ist geradezu der einzige Ausweg für eine Gesellschaft nach dem Sturz der kapitalistischen.

Denn wenn das Volk ans dem Joch des Kapitalismus mit seinen Werkzeugen und Folgen, der religiösen Verdammung, dem Staatsaberglauben etc. befreit sind, durch welche Mittel will man sie zwingen sich dem neuen Joch der bureaukratischen Hierarchie zu unterwerfen? Mit Majoritätsbeschlüssen, Zwang, Gewalt - ein schöner Zustand fürwahr, für den es sich lohnte den alten Zustand abzuschaffen, er würde nur eine neue Umwälzung erfordern. Kurz, auch ein wirklicher Sozialist kann in solcher, kleinlichen Interessen-Vertretung eingekeilt, nichts für seine Ideen tun, dazu gehört volle Bewegungsfreiheit, die man sich nimmt, wenn sie einem nicht gegeben ist.


***

Fassen wir das bisher besprochene zusammen: Grundbedingung für uns Anarchisten ist, dass ein Zustand die freie Entwicklung ermöglicht, dass in ihm also Majoritätsherrschaft, Gesetze, Autoritäten, Zwang jeder Art nicht existieren. Dies scheint uns erreichbar auf der ökonomischen Grundlage des anarchistischen Kommunismus.

Derselbe ist bedingt und wird ermöglicht durch die vollkommene Dezentralisation der Produktion, Industrie und Ackerbau, und in dieser Richtung bewegt sich tatsächlich die Entwicklang der Produktion. Somit sind wir überzeugt, auf völlig gesicherter, der Notwendigkeit der Tatsachen entsprechenden Grundlage zu stehen, wenn wir die Prinzipien des anarchistischen Sozialismus mit allen Mitteln propagieren.

Der sogenannte "wissenschaftliche Sozialismus" dagegen hegt die falsche Überzeugung von der Zentralisation der Produktion in der zukünftigen Gesellschaft; er könnte daher, wenn überhaupt zur Herrschaft gelangend, nur einen künstlichen, reaktionären Zustand zu verwirklichen suchen; da er aber das Rad der Zeit nicht zurückdrehen kann, wird er überhaupt nie verwirklicht werden. Ein Zustand, in dem er herrscht, würde durch Majoritätsherrschaft, Gesetze, Autoritäten und Zwang jeder Art zu unerträglichem Despotismus, Kliquenwirtschaft und Korruption führen, und auf dem Rückweg zum Kapitalismus begriffen sein. Er würde durch Verallgemeinerung des Egoismus in dem von ihm gewünschten Übergangszustand die Chancen des Kommunismus, die er daraus erwartet, ungünstiger machen, als sie es jetzt sind, indem die kommunistischen Triebe, die nie ganz ausstarben, nun vollends beseitigt würden. Wir halten daher den "wissenschaftlichen Sozialismus" für zu den reaktionären Utopien gehörig.

***


A. Wir haben jetzt die Bewegung des Arbeiterschutzes. Diese zeigt, welchen enormen internationalen Einfluss wir Sozialdemokraten durch die Gesetzgebung schon auf den heutigen Staat gewonnen haben.

B. Aus dieser Bewegung sehen wir den schädlichen Einfluss des Marxismus nicht nur auf die sozialistische Bewegung, sondern auch auf die einfache alltägliche Vertretung der Interessen der Arbeiter (Gewerkschaften). Dieser Arbeiterschutz durch Gesetzgebung hat ja seit einigen Jahren den Sozialismus ganz überwuchert; er stellt ein Hineintragen des "politischen Kampfes" auch in die Gewerkschaftsbewegung dar, ein echt marxistisches Prinzip, das die Absurdität des "politischen Kämpfes" klar macht. Man sagt den Arbeitern fast geradezu: Weil ihr auf ökonomischem Wege, durch Koalition, den Achtstundentag, hygienische Einrichtungen und dgl. nicht erreichen könnt, zu schwach dazu seid, deshalb müsst ihr es auf politischem Wege, durch Einfluss auf die Gesetzgebung, durch den Stimmzettel bekommen. Also weil ihr diese Reformen nicht erzwingen könnt, deshalb sollen sie euch die Bourgeois gewissemassen freiwillig geben, eurem Stimmzettel gehorchend! Weil wir zu schwach sind, müssen unsere Feinde uns freiwillig nachgeben!! Daran zu glauben erfordert die denkbar grösste Naivität, aber andere Argumente haben die Vertreter der Gesetzgebung nicht.

Sie posaunen es als einen Sieg aus, wenn eine Gewerkschaft nach der andern auf den ökonomischen Kampf verzichtet und erwartet, dass ihr Alles durch die Gesetzgebung in den Schoss fällt. Die Folge ist, dass die den Arbeitern von heute auf morgen in kleineren Sachen nützliche Gewerkschaftsbewegung ihnen auch genommen wird, entnervt wird und dass an ihre Stelle ein verwässertes Politisieren tritt. Dadurch werden noch grössere Herden Stimmvieh gewonnen, aber die ökonomische Kraft die die Gewerkschaften in gewissem Grade besitzen, wird vermindert und dadurch vollends alles Gewicht der Stimmzettel beseitigt. Diese Arbeiterschutzgesetzbewegung ist ein grosser Rückschritt; der englische sogenannte neue Trades-Unionismus ist eine wahre Karrikatur des alten, der doch so viele Mängel hat. Die gewerkschaftliche Bewegung ist den Politikern preisgegeben, die Bourgeois sehen ganz und gar diese neue Schwäche der Arbeiter und geben ihnen natürlich in keiner Weise, was sie ja selbst jetzt eingestehen, nicht erzwingen zu können (durch Koalitionen Streiks etc.).


A. Aber wir sehen doch in fast allen Ländern die Arbeiterschatzgesetzgebung eine immer mehr ventilierte, der praktischen Lösung immer näher rückende Frage werden.

B. Man konferiert und diskutiert freilich viel darüber, es ist eine Art Modesache geworden, gerade bei den ärgsten Reaktionäen und Ausbeutern. Aber das geschieht nicht der "wahrhaft staatsmännischen Mässigung" der ehemaligen Sozialdemokraten wegen. Auf einer gewissen Stufe der kapitalistischen Produktion wird eine Art Arbeiterschutz eine Notwendigkeit im Interesse der Kapitalisten selbst, wie seinerzeit die englische Zehnstundenbill. Natürlich nicht wirklicher, wie er in den unzähligen sozialdemokratischen Programmen und Gesetzesvorschlägen steht, sondern verstümmelter, heuchlerischer, stets übertretener und von den unter der Hungerpeitsche und schwarzen Liste stehenden Arbeitern nicht zu kontrollierender. Denn der Kapitalist kann die physisch schwächer werdenden Arbeiter nicht mehr brauchen, er fürchtet für die Henne, die die goldenen Eier legt. Auch fürchtet er die Revolution, und sucht sich eine Gnadenfrist zu erkaufen. Und auch - und dies solltet ihr Sozialdemokraten bedenken - weil die Bourgeoisie sieht, dass die Sozialdemokratie verblendet genug ist, sich fast ganz auf diese Forderungen gegenwärtig zu beschränken. Sie denkt da: unter diesen Umständen könne sie die Arbeiterbewegung noch lange kontrollieren und schmeichelt der Sozialdemokratie durch kleine Konzessionen und dgl. Ich weiss natürlich, dass ehrliche Teile der Sozialdemokratie dies zu durchschauen glauben und die Bourgeoisie nur zu benutzen suchen, aber ich glaube, dass in diesem Wettkampf mit Schlauheit und Heuehelei die Sozialdemokratie die Betrogene sein wird; dass das Bourgeoisie-System nicht haltbar ist, denkt sich ja die Bourgeoisie, die Revolution fürchtend, auch, aber diese Taktik der Sozialdemokraten wird dazu gebraucht, es zu verlängern.


A. Was wird nach Ihrer Ansicht das Ende dieser Arbeiterschutz Bewegung sein, denn sie ist doch zu gross, am im Sand zu verlaufen?

B. Soweit man von Vorhergegangenes auf Kommendes schliessen kann, stellen wir Anarchisten uns den weiteren Verlauf folgendermassen vor - und es handelt sich dabei um die Zukunft der Sozialdemokratie überhaupt, denn diese hat sich ja ganz mit jener Reformbewegung identifiziert. Die Sozialdemokratie tritt immer gemässigter, diplomatischer, staatsweiser, nach ihrer Ansicht immer schlauer auf, bis sie an dieser Überschlauheit zu Grunde geht und sich eines Tages so verblasst findet, dass sie sich überhaupt nicht mehr sieht. Das mag Ihnen zu drastisch ausgedrückt erscheinen; ich meine Folgendes damit: Die Sozialdemokratie wird gewiss noch mehr Stimmen erhalten, mehr Abgeordnete, Stadtverordnete und sonstige Würdenträger; mehr Zeitungen, Buchhandlangen, Druckereien; in Ländern wie Belgien oder Dänemark mehr kooperative Bäckereien, in Deutschland mehr Zigarrenhändler und Parteiwirte etc. - kurz eine immer grössere Zahl von Leuten werden ökonomisch von der "ruhigen Weiterentwicklung" der Bewegung abhängen, d.h. davon, dass ja nichts Revolutionäres geschieht, dass ihre Existenz gefährdet. Und gerade diese sind die Führer der Bewegung, die gemäss der Parteidisziplin fast allmächtig sind. Andererseits wird durch die ökonomischen Krisen, den Hunger und die Agitation der Anarchisten das Proletariat immer mehr zum ökonomischen Kampf gedrängt.

Die Sozialdemokratie steht diesem "Geist der Revolte", der sich trotz ihr verbreitet, machtlos gegenüber. Sie kann sich seiner nicht bemächtigen, weil das ihren Existenbedingungen den Boden abschneidet man kann nicht zugleich revolutionär und reformierend handeln. Wie schon jetzt, wird sie immer mehr das in ihrem Selbsterhaltungsinteresse Liegende tun, vermitteln und abwiegeln. Welche jämmerliche Rolle spielt nicht seit 1890 die offizielle deutsche Sozialdemokratie der internationalen 1. Maifeier gegenüber; abwiegelnd, einschläfernd, dadurch die Absichten der deutschen Arbeiter durchkreuzend, den Bourgeois in die Hände arbeitend.

Durch welch jämmerliches Kompromiss beendete der englische Sozialdemokrat Borns, im Verein mit Lordmajor und Kardinal, den grossen Dockstreik von 1880; man sagt, wenn er am Abend jenes Kompromisses in Eastend sich gezeigt hätte, wäre er vom Volk gelyncht worden. Das Volk lernt sie immer mehr in dieser Rolle kennen: Befürworter von Reformen, die doch nichts helfen, und eine Ordnungspartei um jeden Preis. Sie hat sich selbst goldene Fesseln angelegt, sich in ihrer eigenen Schlinge gefangen. Das Volk wird sie zu den reaktionären Parteien rechnen. Natürlich wird bis dahin noch alles mögliche an staatssozialistischen Spielereien versucht worden sein, es wird viel Arbeitsbureaus, Arbeitersekretäre und dergleichen geben. Man kann sagen: wenn die soziale Umwälzung nicht dazwischen kommt, wird die Sozialdemokratie im heutigen Staat siegen, aber es wird der heutige Staat trotzdem bleiben mit aller Ausbeutung und Unterdrückung.

Man denke an den Znstand in Australien, wo es Achtstundentag, Wahlrecht usw. gibt, wo die Stimmen der Arbeiter tatsächlich die Wahlen machen, Ministerien stürzen etc. und dabei an den Misserfolg der kolossalen Streiks, die sich unter für die Arbeiter grösster politischer Freiheit abspielt. In Australien haben die Arbeiter die politische Macht in grösserem Massstab als sonst irgendwo. So mag es - wie wir in Frankreich sehen - sogar Ministerien von Sozialdemokraten geben - der Sozialismus ist dadurch um nichts näher.

Kurz, das Proletariat sieht, dass die Sozialdemokratie nicht seine, sondern als eine politische Partei naturgemäss ihre eigenen Interessen vertritt. Die Stimmenzahl mag steigen, aber bedeutet immer weniger, ebenso wie die Wellenkreise nach einem Schlag ins Wasser immer grösser aber auch immer flacher und schwächer werden, bis sie sich in nichts verlieren. So verflacht und verflüchtigt sich die mit den abgebrauchten Mitteln der Demokratie kämpfende Sozialdemokratie selbst.


A. Was wollt nun ihr Anarchisten für das Volk tun ?

B. "Für das Volk" wollen und können wir garnichts thun, weil, wenn überhaupt etwas geschehen soll, das Volk selbst handeln muss. Unsere Aufgabe ist es, ihm dies begreiflich zu machen, nur von sich selbst etwas zu erwarten. Nicht von Reformen, Gesetzen, Parlamenten, Abgeordneten, Politikern und Führern jeder Art, sondern von der ans seiner eigenen Initiative hervorgehenden wirtschaftlichen Aktion.


A. Was soll also das Volk tun?

B. Wenn es seiner eigenen Kraft bewusst wird, ergibt sich die Notwendigkeit, der Ausbeutung ein Ende zu machen, von selbst. Aber das ist nur ein Teil unserer Tätigkeit. Der andere ist die Verbreitung der anarchistischen Prinzipien und Taktik selbst. Die Umwälzung des alten Wirtschaftsystems wird kommen, ohne uns, wir können sie nicht machen, aber wir sind überzeugt, dass sie erfolglos bleiben, wieder der Reaktion zum Opfer fallen würde, wenn nicht eine hinreichend grosse Zahl von Personen vor und wahrend derselben unseren Prinzipien entsprechend handeln. Gelingt es den Politikern zur Herrschaft zu kommen, eine revolutionäre Regierung einzusetzen, Dekrete zu erlassen, Wahlen auszuschreiben etc., so ist die Aktion zum Misserfolg verurteilt. Die freie Initiative wird beseitigt, man hat ja eine Regierung, und diesmal, glaubt man, eine gute.


A. Wie ist anders die wirtschaftliche Umgestaltung möglich?

B. Durch Befehle und Dekrete garnicht. Sie geschieht durch die eigene schöpferische Organisation des Volkes mit viel grösserer Sicherheit des Erfolgs, als wenn mit blindem Gehorsam auf Befehl eines Komitee operiert würde, wodurch die persönlichen Fähigkeiten und Erfahrungen der Einzelnen unbenutzt in der Masse untergingen, also die besten Kräfte verlieren würden. Die Summe der dabei zur Geltung kommenden Fähigkeiten garantiert uns den Erfolg, den wir von einer zentralisieren, autoritären Kampfweise nie erwarten.

Die Produktion wird auf lokaler Basis begründet werden, wozu schon das Aufhören der vielen jetzt künstlich und zwangsweise durch den Handel bestehenden gegenseitigen Beziehungen drängen wird. Soweit diese Beziehungen angesichts der Dezentralisation der Produktion noch eine Existenzberechtigung haben, werden sie allmälig durch freie Vereinbarungen angeknüpft werden. Über das weitere Funktionieren und die Bedingungen dieses neuen Organismus haben wir ja gesprochen.


A. Was soll aber bis dahin geschehen ?

B. Wie ich bereits sagte, die Propaganda unserer Prinzipien. Und wenn Sie die Entwicklung der Arbeiterbewegung gerade in der neuesten Zeit in Betracht ziehen, werden auch Sie sich dem Eindruck nicht entliehen können, dass die jüngsten Ereignisse uns in dieser Propaganda wesentlich unterstützen. Im Lager der Sozialdemokratie ist schon der Gedanke erwacht, die parlamentarische Aktion durch wirtschaftliche Kampfaktion zu ersetzen, and die Idee gewinnt täglich an Boden. Nun - am Ende dieser Generalstreikpropaganda steht der anarchistische Sozialismus, die Neuorganisation der gesellschaftlichen Produktion nach den Grundsätzen der Freiheit und Gleichheit aller.


*) Dieser Dialog erschien im Jahre 1891 in der "Freiheit". Wir geben ihn zeitgemäss verändert und gekürzt wieder, da gerade unter den heutigen Umständen die in ihm enthaltenen Ausführungen für unsere Genossen ein wertvolles und reichhaltiges Agitationsmaterial bedeuten.

Aus: Der freie Arbeiter, 1. Jahrgang 1904 - Hefte Nr. 32, 33, 34, 35, 36, (Nr. 37 fehlt - sie wurde konfisziert) 38, 39. Digitalisiert von der Anarchistischen Bibliothek und Archiv Wien. Nachbearbeitet (Scanungenauigkeiten entfernt, ae zu ä, That zu Tat usw.) von www.anarchismus.at.


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