Errico Malatesta - Anarchie und Gewalt
Anarchie bedeutet Gewaltlosigkeit, bedeutet Nicht-Herrschaft des Menschen über den Menschen, Nicht-Zwang durch die Gewalt des Willens eines oder mehrerer über den der anderen.
Nur durch die Harmonisierung der Interessen, durch freiwillige Zusammenarbeit, durch Liebe, Achtung, gegenseitige Toleranz, nur durch Überzeugung, Beispiel, Nachahmung und die beiderseitigen Vorteile der Zuneigung kann und muß die Anarchie siegen, das heißt eine Gesellschaft frei verbundener Brüder, die all ihren Mitgliedern größtmögliche Freiheit, größtmöglichen Fortschritt und Wohlstand sichert.
Sicherlich gibt es andere Menschen, andere Parteien, andere Richtungen, die ebenso aufrichtig dem allgemeinen Wohl ergeben sind wie die Besten unter uns. Was jedoch die Anarchisten von allen anderen unterscheidet, ist gerade der Abscheu vor Gewalt, der Wunsch und das Ziel, die Gewalt, das heißt die materielle Gewalt, aus den Beziehungen der Menschen untereinander zu verbannen.
Man könnte daher sagen, daß die spezifische Idee, die die Anarchisten kennzeichnet, die Abschaffung des Gendarmen ist, die Beseitigung der mittels roher - legaler oder illegaler - Gewalt aufgezwungenen Regeln als ein das gesellschaftliche Leben bestimmender Faktor. Aber, so wird man fragen können, warum haben die Anarchisten im gegenwärtigen Kampf gegen die politischen und gesellschaftlichen Institutionen, die sie für unterdrückerisch halten, Gewalt gepredigt und angewandt, und warum predigen und praktizieren sie weiterhin gewaltsame Mittel, die doch in offensichtlichem Widerspruch zu ihren Zielen stehen? Derart, daß in gewissen Zeiten viele Gegner guten Glaubens davon ausgingen - und alle Gegner bösen Glaubens schließlich auch - , daß das spezifische Merkmal des Anarchismus gerade die Gewalt sei?
Die Frage mag heikel erscheinen, aber man kann sie mit wenigen Worten beantworten. Damit zwei in Frieden miteinander leben können, müssen beide den Frieden wollen; besteht nämlich einer der beiden darauf, den anderen mit Gewalt zwingen zu wollen, für ihn zu arbeiten und ihm zu dienen, dann wird dem anderen - trotz seiner Friedfertigkeit und seiner Bereitschaft zu gegenseitiger Übereinkunft - nichts übrig bleiben, als der Gewalt mit entsprechenden Mitteln Widerstand entgegenzusetzen, sofern er seine Menschenwürde behalten und nicht zu allerniedrigster Sklaverei verurteilt sein will. Stellt euch einmal vor, ihr geratet in Konflikt mit irgendeinem Dumini, er ist bewaffnet, ihr seid wehrlos, er ist von einer vielköpfigen Bande umgeben, ihr seid allein oder nur zu wenigen, er ist sicher, straflos auszugehen, ihr in Sorge darum, daß die Karabinieri kommen, euch festnehmen, mißhandeln und wer weiß wie lange im Gefängnis sitzen lassen ... und dann sagt mir mal, ob man sich bei dieser Gelegenheit überlegen sollte, dem Hinterhalt dadurch zu entkommen, daß man euren Dumini mit guten Worten zu überzeugen sucht, gerecht, gut und sanft zu sein!
Erste Ursache der Übel, die die Menschheit gequält haben und weiterhin quälen, ist - abgesehen natürlich von irgendwelchen widrigen Naturgewalten - die Tatsache, daß die Menschen nicht begriffen haben, daß Vereinbarung und brüderliche Zusammenarbeit die besten Mittel gewesen wären, allen größtmögliches Wohl zu sichern: die Stärksten und Schlauesten wollten die anderen unterwerfen und ausbeuten, und wenn es ihnen gelungen war, eine vorteilhafte Position zu erringen, versuchten sie, sie zu halten und sich darin zu verewigen, indem sie zu ihrer Verteidigung alle möglichen ständigen Zwangsorgane schufen.
So kam es, daß die ganze Geschichte voller erbitterter Kämpfe, voller Gewalttätigkeiten, Ungerechtigkeiten, grausamer Unterdrückung auf der einen und voller Rebellionen auf der anderen Seite war.
Dabei gibt es keine Parteienunterschiede: wer immer sich befreien oder versuchen wollte, sich zu befreien, mußte der Gewalt Gewalt, den Waffen Waffen entgegensetzen. Während es ein jeder jedoch für notwendig und richtig hielt, zur Verteidigung der eigenen Freiheit, der eigenen Interessen, der eigenen Klasse, des eigenen Landes Gewalt anzuwenden, verurteilte er dann im Namen einer ihm eigenen Moral die Gewalt, wenn diese sich für die Freiheit, für die Interessen, die Klasse und das Land der anderen gegen ihn selbst richtete.
Und so haben gerade diejenigen, die zum Beispiel hier in Italien mit gutem Grund die Unabhängigkeitskriege verherrlichten und Agesilao Milano, Felice Orsini und Guglieimo Oberdan (1) zu Ehren Marmor- oder Bronzedenkmäler errichteten, oder jene, die leidenschaftliche Hymnen auf Sofia Perovskaja (2) und andere Märtyrer ferner Länder anstimmten, die Anarchisten als Verbrecher bezeichnet, als diese sich erhoben, um völlige Freiheit und Gerechtigkeit für alle Menschen zu fordern und dabei offen und frei erklärten, daß heute wie gestern, solange nämlich Unterdrückung und Privilegien durch die rohe Gewalt der Bajonette verteidigt würden, die Erhebung des Volkes, die Auflehnung des Einzelnen und der Masse das notwendige Mittel zur Erreichung der Befreiung bleibt.
Ich erinnere mich, daß anläßlich eines aufsehenerregenden anarchistischen Attentats jemand, der damals in den vordersten Reihen der sozialistischen Partei stand und gerade aus dem griechisch-türkischen Krieg heimgekehrt war, laut die Stimme erhob und mit Zustimmung seiner Genossen rief, daß das menschliche Leben stets heilig sei und daß man es nicht einmal für die Sache der Freiheit antasten dürfe. Anscheinend war das Leben der Türken und die Sache der griechischen Unabhängigkeit eine Ausnahme!
Mangelnde Logik oder Heuchelei?
Dennoch ist die anarchistische Gewalt die einzige, die zu rechtfertigen ist, die einzige, die nicht verbrecherisch ist. Ich meine natürlich die Gewalt, die wirklich die anarchistischen Merkmale trägt und nicht die eine oder andere Tat blinder und sinnloser Gewalt, die den Anarchisten zugeschrieben wurde oder sogar tatsächlich von Anarchisten begangen wurde, die sich entweder durch infame Verfolgungen in die Enge getrieben sahen oder infolge einer übermäßigen, vom Verstand nicht gemäßigten Empfindsamkeit angesichts der sozialen Ungerechtigkeiten, durch den Schmerz angesichts des Schmerzes anderer, blind geworden waren.
Die wahre anarchistische Gewalt hört auf, wo die Notwendigkeit der Verteidigung und der Befreiung aufhört. Sie wird durch das Bewußtsein getragen, daß die Individuen, einzeln betrachtet, wenig oder überhaupt nicht verantwortlich sind für die Position, die Erbe und Umwelt ihnen verschafft haben. Diese Gewalt ist nicht von Haß, sondern von Liebe beeinflußt, und sie ist gut, weil sie auf die Befreiung aller abzielt und nicht auf die Ersetzung der Herrschaft der anderen durch die eigene.
Es gab in Italien eine Partei mit hohen zivilisatorischen Zielen, die sich darum bemüht hat, in den Massen jedes Vertrauen in die Gewalt auszulöschen ... und der es gelungen ist, sie eines jeden Widerstandes unfähig zu machen, als der Faschismus kam. Mir scheint, daß selbiger Turati (3) dies in seiner Pariser Gedenkrede zu Ehren Jaures mehr oder weniger klar erkannt und beklagt hat.
Die Anarchisten sind frei von Heuchelei. Gewalt muß mit Gewalt beantwortet werden: heute gegen die Unterdrücker von heute, morgen gegen die Unterdrücker, die versuchen sollten, den Platz der heutigen einzunehmen. Wir wollen die Freiheit für alle, für uns und unsere Freunde ebenso wie für unsere Gegner und Feinde. Freiheit, die eigenen Gedanken zu haben und zu verbreiten, Freiheit zu arbeiten und das eigene Leben so zu gestalten, wie es einem gefallt; keine Freiheit natürlich - und die Kommunisten werden gebeten, dies richtig zu verstehen - keine Freiheit, die Freiheit der anderen zu unterdrücken und die Arbeit der anderen auszubeuten.
(Pensiero e Volonta, l. September 1924)
Fußnoten:
(1)Patrioten und Revolutionäre, waren am Unabhängigkeitskrieg 1848 beteiligt Unternahmen auch Attentatsversuche, so z.B. Orsini auf Napoleon III
(2) russische Revolutionärin, verübte Attentate auf Alexander II.; s.a. Emma Goldman Gelobtes Leben, Bd. l, Berlin 1978 (Karin Kramer Verlag)
(3) Turati, Filippo, 1857 - 1932, Mitbegründer und langjähriger Führer der Sozialistischen Partei (gegr. 1892). Wortführer der reformistischen Fraktion, näherte sich zusehends dem Bernsteinschen Revisionismus an. Trat für soziale Reformen und schrittweise Eroberung der Macht durch die Arbeiterklasse ein. Passivität und Versagen angesichts des aufsteigenden Faschismus. (Anm. d. Üb.)
Aus: Errico Malatesta - Gesammelte Schriften, Band 2; Karin Kramer Verlag Berlin, 1980
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